Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Glanz der Welt

Der Glanz der Welt

Titel: Der Glanz der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Amon
Vom Netzwerk:
seine ganz eigene Theorie. Kein Mörder ist normal. Oder kaum ein Mörder. Wenn jemand in eine Bank hineinging, dabei so blöd war, dem Kassier statt eines Losungsworts oder des Personalausweises eine Pistole unter die Nase zu halten, und da geschah dann etwas, weil der Räuber nervös wurde, zuerst mit der Waffe herumfuchtelte, dann mehr aus Angst denn aus Überlegung abdrückte und jemanden tötete – das konnte Pirchmoser nicht billigen, aber verstehen. Das war ein Unfall, der Mord war nicht wirklich eingeplant. Wenn jemand aber in eine Bank ging und gleich mal alle Lebewesen mit einer Pumpgun niedermähte, so jemand war nicht normal. Niemand, der geplant mordete, war normal. Das waren Besessene. In uns allen wohnen Dämonen. Pirchmoser meinte das nicht unmittelbar konkret, die Dämonen in unseren Seelen sind keine Personen, die sich eingenistet haben,irgendwelche abgefallenen Engel oder gar der Teufel selbst. An diesen mittelalterlichen Unsinn glaubte er nicht. Aber er war überzeugt, dass die Kraft der Vernunft schwach war. Die Dämonen waren nichts anderes als all die unbeherrschten Triebe wie Gier, Geiz, Neid, Hass oder Vorurteile. In allen von uns, auch in ihm, trieben sie ihr Unwesen. Die Religionen nennen es das Böse in der Welt. Aber es ist das Böse in uns. Die Welt schaut nur zu. Pirchmoser glaubte fest, dass jeder Tatort eine Aura hatte, dass die inneren Dämonen ihre Spuren hinterließen. Seiner Theorie nach kehrten viele Mörder deshalb an den Tatort zurück, weil sie glaubten, so ihre Dämonen besänftigen zu können. Sie kehrten zurück, um sich symbolisch zu opfern und danach nicht mehr erwischt werden zu können. Indem sie an den Tatort zurückkehrten, glaubten sie, der Dämonen Herr zu werden. Wenigstens für eine Weile. So wie gläubige Christen überzeugt waren, dass Jesus sie mit seinem Opfertod am Kreuz befreit hatte, so versuchten Mörder, sich mit der Rückkehr an den Tatort selbst zu befreien. Beide Vorgänge, der Opfertod Christi und die Rückkehr zum Tatort, waren totemistische Rituale. Pirchmosers Theorie war eine zwar schräge, im Kern jedoch sehr katholische Idee, zu der Pirchmoser guten Gewissens stehen konnte.
    Die Dämonen-Theorie mochte esoterisch klingen. Pirchmoser sah das keineswegs so. Wenn heute noch irgendwelche kleinste Überreste von Goethes Körper durchs All rasten, sei es als Teilchen, sei es als Welle, wenn wir rein theoretisch dauernd von Materieresten einst lebender Menschen durchlöchert werden, dann sprach nichts dagegen, dass ein Tatort eine Aura hatte, nämlich die Teilchen, die dort herumschwirrten. Pirchmoser hatte nur eine ungefähre Vorstellung davon, wie das funktionieren könnte, aber die ganze Quantentheorie lebtvom Ungefähren. Also wanderte er durch die kühle Nacht, umrundete die bisherigen Tatorte, sog die Luft und die Quantenteilchen in sich ein und ließ sich von Neutrinos durchlöchern. Das Nachdenken hatte ihn ebenso wenig einer Lösung nähergebracht wie das Aktenstudium. Also ließ er sich durch den Strom der Materie treiben, imaginierte gefaltete Paralleluniversen irgendwo in der zehnten oder elften Dimension, welche selbst sich wiederum hinter der dritten Dimension vor uns versteckten. Eine irre Welt, dachte Pirchmoser, da konnten nur irre Menschen entstehen.
    Er bog auf den Neuen Markt ein. Zum letzten Tatort zuerst, da waren die Quanten noch frisch. Pirchmoser nahm sich selbst nicht ganz ernst, was seine Theorie betraf, aber er hatte oft die besten Ideen, wenn er sinnend und in sich gekehrt an Tatorten herumgeisterte. Vielleicht war doch was dran an den Quarks, den Strings, den Bosonen.
    Gleich aus dem ersten Haus, an dem er vorbeiging, spürte er in der Kälte einen geringfügig wärmeren Luftzug. Das Haustor stand einen Spaltbreit offen. Neugierig öffnete Pirchmoser das Tor ein wenig, stieß es nach kurzem Zögern ganz auf und trat ein. Vor ihm führten ein paar Stufen zu einem uralten Aufzug, es war sehr dunkel im Vorhaus, mit der rechten Schulter stieß er wo an, mit lautem Getöse fiel etwas um und krachte zu Boden. Pirchmoser drückte den Schaltknopf für das Minutenlicht, es wurde schlagartig hell. Er blinzelte mit den Augen, denen war das plötzliche Licht zu hell und zu viel. Er hatte ein großes Stativ umgeworfen. Ein Stativ mit Scheinwerfer. Pirchmoser erschrak, sammelte sich jedoch sofort und versuchte, möglichst ruhig zu bleiben. Stativ, Scheinwerfer, Innere Stadt. Er glaubte nicht an Zufälle. Hier wurden die Utensilien für

Weitere Kostenlose Bücher