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Die erste E-Mail von meiner Schwester kommt am Morgen ihrer Beerdigung.
Ich weiß, ich weiß. Wie krank muss man sein, vor dem Begräbnis seiner Schwester noch schnell seine E-Mails zu checken? Aber manchmal tut es einfach so weh, als flösse Säure statt Blut durch meine Adern, und dann gehe ich online.
Im Netz ist wenigstens alles normal. Keine Leichenschauen, keine Kriminalpolizisten, keine Fernsehkameras. Nur Facebook-Updates darüber, wer was mit wem hat. Und Junkmails von afrikanischen Prinzen, die mir freundlicherweise einen Anteil ihres Vermögens anbieten. Ach ja, und E-Mails von Toten. Das ist weniger normal.
Zuerst scrolle ich beinahe über die Nachricht hinweg, und sobald ich sie sehe, weiß ich, dass sie nicht echt sein kann. Das ist entweder ein ganz verrückter Zufall oder irgendwer hat sich in ihren Account gehackt, von dem aus sie mir sonst immer den neuesten Tratsch aus dem College und witzige Sauffotos geschickt hat.
Doch obwohl ich mir sicher bin, dass es ein blöder Scherz ist, drückt mein Finger die Maustaste und ich kann kaum atmen, während die Mail geladen wird …
An:
[email protected] Von:
[email protected] Datum:
15. September 2012
Zeit:
10 : 05 : 12
Betreff:
[DIESE E-MAIL HAT KEINEN INHALT]
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Der grellweiße Bildschirm tut mir in den Augen weh, aber ich traue mich nicht zu blinzeln, aus Angst, dass die Nachricht dann verschwindet.
»Alice, was machst du denn da oben? Der Wagen ist hier.«
Ich bringe kein Wort heraus.
Das muss ein Defekt sein. Ein Gespenst in der Maschine. Eine E-Mail-Version dieser Geschichten, in denen jemand plötzlich eine Weihnachtskarte aus dem Jahr 1952 bekommt, von seiner längst verstorbenen Oma.
Und es ist sicher nur Zufall, dass ich die verlorene E-Mail meiner Schwester gerade mal eine Stunde vor ihrem letzten … Auftritt … bekomme.
»Alice?«
Ich zucke zusammen, obwohl meine Mum draußen vor der Zimmertür steht. »Bin gleich so weit!«, rufe ich.
Aber ich rühre mich nicht vom Fleck. Ich kann einfach nicht. Ich habe das Gefühl, als wäre irgendetwas dort. Etwas, das ich nicht sehen kann.
Vielleicht habe ich sie jetzt wirklich nicht mehr alle. »Du bist nicht echt«, zische ich dem Bildschirm zu. »Nicht echt.«
Ich will aufstehen. Meine Beine sind schwer wie Blei und ich kann den Blick noch immer nicht vom Bildschirm lösen. Irgendwas muss ich übersehen, aber was?
»Alice? Nun komm aber.« Mum klingt ein bisschen angefressen. Schätze mal, das hier ist auch nicht gerade der schönste Tag ihres Lebens. Ich sollte mir mehr Mühe geben. Eine bessere Tochter sein, jetzt, da ich zum Einzelkind geworden bin.
Aufstehen. Zur Tür. Einen Fuß vor den anderen. Immer weiter gehen.
Ich drehe ich mich noch mal zum Bildschirm um und da sehe ich es. Die Zeit.
10 : 05 : 12
Kurz nach zehn Uhr morgens am Tag von Meggies Beerdigung.
Oder 10. 05. 12.
Mein sechzehnter Geburtstag. Und der Tag, an dem Meggie ermordet wurde.
2
Eigentlich sind wir schon längst Nachrichten von gestern. Oder, um genauer zu sein, Nachrichten von vor vier Monaten. Der tragische Fall der Familie Forster.
Seit dem Mord an Meggie gab es noch Hunderte weitere. Menschen wurden erstochen, erschossen und überfahren. Aber der Tod meiner Schwester hätte es wohl auch dann in die Schlagzeilen geschafft, wenn sie kein Fernsehstar gewesen wäre. Mr Bryant, mein Lehrer für Medienwissenschaft, hat gesagt, die Zeitungen interessieren sich vor allem für Mordopfer, die weiblich, hübsch und weiß sind, dabei sind die meisten Jugendlichen, die sterben, männlich, pickelig und schwarz.
Allerdings hat er sich mit solchen Aussagen zurückgehalten, seit Meggie gestorben ist.
Als unser Wagen abfährt, sehe ich zwei Reporter von den Lokalnachrichten vor unserem Haus. Ich habe ihnen immer auf dem Minifernseher in meinem Zimmer dabei zugesehen, wie sie direkt unter meinem Fenster standen und live berichteten. Bei ausgeschaltetem Ton konnte ich ihre Stimmen durch die Scheibe hören.
Ich mache die Augen zu, um alles auszublenden. Aber es funktioniert nicht, denn jetzt sehe ich nur noch diesen Computerbildschirm vor mir, mit diesem Datum. Das kann doch kein Zufall sein, oder?
»Ich hoffe bloß, dass niemandem deine Manschettenknöpfe auffallen, Glen.«
Mein Vater seufzt. »Wieso das denn?«
»Die sind viel zu glänzend. Zu fröhlich. Heute kommt es auf die kleinste Kleinigkeit