Der Glanz des Mondes
bestimmt war weiterzuleben, wollte ich die Schriften noch vor Winterbeginn wieder in meinen Besitz bringen, denn ich musste die langen Monate nutzen, um meine Strategie für den Sommer zu planen; meine verbliebenen Gegner würden nicht zögern, den Stamm gegen mich einzusetzen. Ich spürte, dass ich Hagi im Frühjahr verlassen musste, um meinen Herrschaftsanspruch über die Drei Länder durchzusetzen. Vielleicht würde es sogar notwendig sein, meinen Stützpunkt nach Inuyama zu verlegen und diese Stadt zu meiner Hauptstadt zu erklären. Bei diesem Gedanken musste ich halb verbittert lächeln, denn Inuyama bedeutet Berg des Hundes, und es schien, als hätte er geradezu auf mich gewartet.
Ich wies Makoto an, Hiroshi mitzunehmen. Der Junge würde ihm zeigen, wo die Aufzeichnungen versteckt waren. Mich ließ die nervöse Hoffnung nicht los, dass Kaede in Shirakawa sein würde, dass es Makoto irgendwie gelingen würde, sie zu mir zurückzubringen.
Fast zwei Wochen später, an einem bitterkalten Tag, kehrten die beiden zurück. Ich sah, dass sie allein waren, und die Enttäuschung überwältigte mich fast. Zudem kamen sie mit leeren Händen.
»Die alte Frau, die den Schrein bewacht, möchte die Aufzeichnungen niemandem übergeben außer dir«, sagte Makoto. »Es tut mir Leid, ich konnte sie nicht umstimmen.«
»Wir reiten zurück«, sagte Hiroshi eifrig. »Ich werde Lord Otori begleiten.«
»Ja, du musst selbst dorthin«, sagte Makoto. Er schien weitersprechen zu wollen, hielt jedoch plötzlich inne.
»Ja?«, ermunterte ich ihn.
Als er mich ansah, war seine Miene eine seltsame Mischung aus Mitleid und reiner Zuneigung. »Wir reiten zu dritt. Und wir werden endlich herausfinden, ob es irgendwelche Nachrichten über Lady Otori gibt.«
Ich hätte nichts lieber getan, fürchtete jedoch, dass es eine vergebliche Reise werden würde und dass außerdem die Jahreszeit bereits zu ungünstig war. »Wir riskieren, vom Schnee überrascht zu werden«, sagte ich. »Ich hatte geplant, den Winter über in Hagi zu bleiben.«
»Im schlimmsten Fall kannst du in Terayama bleiben. Dort werden wir auf dem Rückweg vorbeikommen. Und ich werde da bleiben, denn ich sehe, dass unsere gemeinsame Zeit sich dem Ende zuneigt.«
»Du wirst mich verlassen? Warum?«
»Ich spüre, dass mich andere Aufgaben erwarten. Du hast alles erreicht, wobei ich dir helfen konnte. Nun zieht es mich in den Tempel zurück.«
Ich war entsetzt. Musste ich alle verlieren, die ich liebte? Ich wandte mich ab, um meine Gefühle zu verbergen.
»Als ich dachte, dass du stirbst, legte ich ein Gelöbnis ab«, fuhr er fort. »Ich gelobte dem Erleuchteten, dass ich mich deiner Sache, wenn du überleben würdest, auf eine andere Art und Weise verschreiben würde. Ich habe an deiner Seite gekämpft und getötet und ich würde es mit Freuden wieder genauso machen. Aber letzten Endes nutzt es nichts. Es ist wie der Tanz des Wiesels; die Spirale der Gewalt geht immer nur weiter und weiter…«
Seine Worte klangen mir in den Ohren, es waren genau jene Worte, die mir während des Deliriums so quälend durch den Kopf gegangen waren.
»Im Fieber hast du über deinen Vater gesprochen und über das Gesetz der Verborgenen, niemandem das Leben zu nehmen. Das ist für mich als Krieger schwer zu verstehen, aber als Mönch fühle ich, dass ich versuchen muss, ihm zu folgen. In dieser Nacht gelobte ich, nie wieder zu töten. Stattdessen möchte ich lieber durch Gebete und Meditation Frieden finden. Damals ließ ich meine Flöten in Terayama zurück, um zu den Waffen zu greifen. Nun werde ich meine Waffen zurücklassen und zu ihnen zurückkehren.«
Er lächelte schwach. »Wenn ich es ausspreche, klingt es verrückt. Es ist nur der erste Schritt einer langen und schwierigen Reise, aber er muss getan werden.«
Ich erwiderte nichts, sah den Tempel in Terayama vor mir, wo Shigeru und Takeshi begraben waren, wo ich Schutz und Erziehung genossen hatte, wo Kaede und ich geheiratet hatten. Er lag in der Mitte der Drei Länder, war das geografische und spirituelle Herz meines Landes und meines Lebens. Und von nun an würde Makoto dort sein und für den Frieden beten, den ich herbeisehnte, würde sich meinem Ziel für immer verschreiben. Er würde ein Einzelner sein, wie ein winziger Farbspritzer im riesigen Fass des Färbers, doch ich konnte sehen, wie sich die Farbe im Lauf der Jahre ausbreitete, die blaugrüne Farbe, die das Wort Frieden für mich immer bedeutet hatte. Unter Makotos
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