Der globale Eingriff
gegenüber bestenfalls nur teilweise unter Kontrolle. Für einen Lukas sind Sie verweichlicht. Aber ich danke Ihnen für Ihr Mitgefühl, und ich hoffe, daß Sie überleben. Die nächsten Tage werden hart.“
„Und ich, Sie…“ hob der Professor an, aber in diesem Moment kehrte die Schwester zurück, und er redete gravitätisch weiter. „Versuchen Sie, sich keine weiteren Sorgen zu machen, gnä’ Frau. Alles, was menschenmöglich ist, wird für Ihren Jungen getan. Sie werden sehen, er wird schon wieder.“
Er hätte ein Arzt sein können, der einen besorgten Angehörigen beruhigt.
Kurze Zeit später verließ Professor Donnelly die Intensivstation, um eine andere zu besuchen, und Chiak und der Rest der Belegschaft wirkten sichtlich entspannt. Rund um Malcolm lief die geschäftige Tagesroutine der Station ab, mit den Krankenbildern der Patienten, den gelegentlichen Notfallen und dem beruflich hochqualifizierten Verhalten des Personals bei solchen Notfallen – dies alles wurde ihm ständig auf den Bildschirmen präsentiert. Öfter als anderswo jedoch hielt er sich bei Monitor Sieben auf, bei der Großen Mary und dem Jungen, der jetzt aus seiner Bewußtlosigkeit erwacht war.
Es konnte keinen Zweifel an der Tiefe und der Ernsthaftigkeit der Gefühle zwischen den beiden geben, und Malcolm wußte, daß er eigentlich Mitgefühl mit der Frau hätte haben müssen. Aber ihre Sorge, das wußte er jetzt, war an sich nur ein Teil ihrer Ausbildung, ein notwendiges Mittel, um gefühlsmäßig ausgeglichen zu bleiben, eine bösartige, psychopathologische Ausgeglichenheit zwischen Gut und Böse. Eine Selbstmörderin wurde gerettet, und endlos viele Eingeborene starben derweilen vor Hunger und an Seuchen; die berechtigte Wut über das sinnlose Abknallen eines alten Mannes wurde von dem Auslöschen seines gesamten fünftausend Mann starken Wohnblocks begleitet. Wie viele Menschen würden sterben oder waren bereits gestorben, um die tiefe Zuneigung und Sorge dieser unglaublich schönen jungen Frau dem Jungen Tommy gegenüber auszugleichen?
Du große, mordlustige, heuchlerische Kuh, fuhr er das Bild auf Monitor Sieben wortlos an. Dann schloß er die Augen und versuchte, sich zu beruhigen, um seinen erhöhten Pulsschlag wieder zu senken. Er durfte keinesfalls die Kontrolle über sich selbst verlieren. Es war sehr wahrscheinlich, daß seine Reaktionen aufgezeichnet wurden und daß ein Beobachter mit Namen Lukas ihn beobachtete, seinen Kopf schüttelte und einem Angeworbenen mit Namen Malcolm einen Ablehnungsschein ausschrieb.
Auf der ganzen Welt sterben Menschen, sagte er sich. Beruhige dich. Denk nach. Was erwartest du von der Welt – Gerechtigkeit?
Als er seine Augen wieder öffnete, war das Bild der Intensivstation verschwunden, die Wände der Zelle waren wieder durchsichtig, und eine Mahlzeit kam durch einen Schacht im Boden, der sich geöffnet hatte. Die Tür hatte sich ebenfalls geöffnet, und über ihr erschien eine Anzeige: E SSENS - UND Ü BUNGSZEIT – D AUER ZWEI S TUNDEN . Er hatte den ersten Punkt erledigt und erwog gerade, mit dem zweiten zu beginnen, als Anns Stimme aus einem versteckten ,Lautsprecher’ kam.
„Bist du da?“ fragte sie.
„Ich bin da“, antwortete Malcolm mit vor Überraschung und plötzlich einsetzender Spannung rauher Stimme. „Wo zum Teufel bist du?“
„Schrei mich nicht an…“ hob sie wütend an, dann redete sie mit ruhigerer Stimme weiter. „Wir wollen doch jetzt nicht streiten, Liebling, das könnte einen schlechten Eindruck auf unsere Lehrer machen. Ich bin im sechsundsiebzigsten Stockwerk, und mir wurde gesagt, daß du im dreiundvierzigsten bist. Mir wurde auch gesagt, daß ich dich nicht besuchen kann, weil alle Stockwerke unter dem fünfzigsten Lukas-Gebiet sind und dort nur Männer zugelassen werden. Hier oben sind die Vorschriften nicht so streng. Hier bei Johannes sind unter den Lehrern und Ausbildungswächtern beide Geschlechter vertreten, so weit ich das beurteilen kann. Könntest du hier hochkommen? Bitte.“
Sie hielt ihre Stimme im Tonfall einer gewöhnlichen Unterhaltung, aber Malcolm konnte erkennen, daß dazu eine gehörige Portion Beherrschung nötig war. Er sagte: „Tut mir leid. Ich wollte dich nicht anschreien. Ich hatte nur gerade eine Unterhaltung zwischen dem Prof. und der Großen Mary mit angehört, und das hat mich sehr…“
„Bei mir ist dieselbe Sendung gelaufen“, unterbrach sie ihn, „und in diesem Stockwerk sind noch viel mehr Große Marys.
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