Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame
Worte. Tristan l’Hermite verzweifelte, etwas aus der Klausnerin herauszubringen, und wandte ihr den Rücken. Diese sah unter heftigem Herzklopfen, wie er langsam auf sein Pferd zuging. „Wohlan!“ murmelte er zwischen den Zähnen, „zur Verfolgung! Ich lege mich nicht schlafen, bevor die Zigeunerin gehängt ist.“ Dennoch zögerte er einige Zeit, bis er wieder aufs Pferd stieg. Gudule schwebte zwischen Leben und Tod, wie er auf dem Platze die unruhige Miene eines Jagdhundes umherschweifen ließ, der in seiner Nähe das Lager des Wildes wittert und nur mit Widerstreben sich entfernt. Endlich schüttelte er den Kopf und schwang sich in den Sattel. Das so furchtbar bedrückte Herz der Klausnerin beruhigte sich, und sie sprach leise, mit einem Blick auf ihre Tochter, welche sie bis dahin noch nicht anzuschauen gewagt hatte: „Gerettet!“
Die ganze Zeit über kauerte das arme Mädchen, ohne sich zu rühren und fast ohne zu atmen, im Winkel, stets den Gedanken des Todes vor Augen. Von dem Auftritt zwischen Tristan und der Alten war ihm nichts entgangen, und die Angst der Mutter fand stets bei ihm Widerhall. So hörte Esmeralda das allmähliche Krachen des Fadens, der sie über dem Abgrund noch hielt; zwanzigmal glaubte sie, er zerreiße, und fühlte endlich ihren Fuß auf festem Boden. In dem Augenblick vernahm sie, wie eine Stimme dem Prévot zurief: „Beim Teufel! Herr Prévot, das geht mich nichts an. Ich bin ein Krieger und hänge keine Hexen. Der Pöbel ist niedergehauen, drum mögt Ihr jetzt Eure Sachen allein abmachen und erlauben, daß ich zu meiner Kompanie zurückkehre, denn die ist ohne Hauptmann.“ – Die Stimme war die des Phoebus von Chateaupers. Die Gefühle Esmeraldas waren unbeschreiblich. Dort war ihr Beschützer, ihr Geliebter, ihr Freund, ihre Freistatt, ihr Phoebus! Sie stand auf, und bevor ihre Mutter sie daran hindern konnte, stürzte sie an die Luke und rief: „Phoebus!, mein Phoebus! Komm zu mir!“
Phoebus war verschwunden, denn soeben war er um die Straßenecke galoppiert. Aber Tristan war noch nicht fort.
Mit Gebrüll stürzte die Klausnerin auf ihre Tochter; mit Gewalt riß sie sie zurück, so daß ihre Nägel in deren Nacken drangen. Eine Tigerin, die Mutter ist, sieht so genau nicht zu … Allein es war zu spät; Tristan hatte schon genug gesehen.
„Oh! Oh!“ rief er mit einem Lächeln, das seine Zähne entblößte und seinem Gesicht das Ansehen einer Wolfsschnauze verlieh; „zwei Mäuse im Mauseloch!“
„Das dacht’ ich mir gleich!“ frohlockte der Soldat.
Tristan klopfte ihm auf die Schulter: „Du bist ein guter Kater! – Wohlan! Wo ist Henriet Cousin?“
Ein Mann, der weder das Antlitz noch das Kleid eines Soldaten trug, trat aus ihren Reihen hervor. Sein Kleid war halb braun, halb grau, seine Haare flach anliegend, seine Ärmel von Leder; in der dicken Hand trug er ein Bündel Stricke. Dieser Mann war ein immerwährender Begleiter Tristans, der ein immerwährender Begleiter Ludwigs XI. war.
„Freund“, sprach Tristan zu ihm, „ich glaube, dort ist die Hexe, die wir suchen. Du sollst sie hängen. Hast du deine Leiter bei dir?“ – Jener erwiderte: „Eine Leiter hole ich mir aus dem Schuppen des Pfeilerhauses. Sollen wir auf dem Hochgericht da die Sache abmachen?“ Hierbei zeigte er auf den steinernen Galgen. – „Ja!“ – „So, so!“ sagte jener Mann mit einem noch roheren als Tristans Lachen. „Wir brauchen nicht weit zu gehen.“ – „Schnell! Mache die Sache ab, nachher kannst du lachen.“
Als alle Hoffnung verloren war, da Tristan die Tochter gesehen hatte, sprach die Klausnerin kein Wort. Das halbtote, arme Mädchen legte sie in den Winkel ihrer Höhle, stellte sich an die Luke und stützte beide Hände auf die Ecke des Gesimses wie zwei Klauen. In dieser Stellung ließ sie ihren Blick, der wild und wahnsinnig geworden war, unerschrocken über alle Soldaten schweifen. Als Henriet Cousin sich der Luke näherte, nahm ihr Gesicht einen so wütenden Ausdruck an, daß er zurückfuhr.
„Gnädiger Herr“, sagte er, wieder umkehrend, zum Prévot; „welche soll ich hängen?“ – „Die Junge.“ – „Desto besser. Wie es scheint, wäre es mit der Alten nicht so leicht.“
Henriet Cousin trat auf die Luke zu. Der Blick der Mutter bewirkte, daß er seine Augen niederschlug. Er sagte furchtsam: „Frau …“ Sie unterbrach ihn mit leiser und wütender Stimme: „Was willst du?“ – „Nicht Euch, die andere.“ – „Welche andere?“
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