Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame
das Gitter zerbrach. Wie schimpfte ich da den Fuhrmann aus!“
„Ja“, sprach ein anderer Häscher, „sie hat recht, ich war dabei.“
Überall finden sich Leute, die alles gesehen haben. Das unverhoffte Zeugnis des Häschers flößte der Klausnerin wieder Mut ein, während sie in diesem Verhöre gleichsam einen Abgrund auf der Schärfe des Schwertes überschritt. Sie war aber zu einem immerwährenden Wechsel von Hoffnung und Unruhe verurteilt.
„Wenn ein Wagen das getan hat“, erwiderte der erste Soldat, „so müßten die Eisenstäbe nach innen gebogen sein. Sie sind es aber nach außen.“
„He! He!“ sprach Tristan zu dem Soldaten, „du hast eine Nase wie ein Untersuchungsrichter im Châtelet. Altes Weib, was kannst du darauf entgegnen?“
„Gott!“ rief sie in der äußersten Verzweiflung, und ihre Stimme bezeugte wider ihren Willen, daß ihr Auge in Tränen schwamm, „ich schwöre es Euch, gnädiger Herr, ein Wagen hat das Gitter zerbrochen. Ihr hört ja, jener Mann hat’s gesehen. Und was hat dies mit Eurer Zigeunerin zu schaffen?“ – „Hm!“ brummte Tristan.
„Teufel!“ begann der Soldat, durch Tristans Lob ermutigt, nochmals, „der Bruch des Eisens ist ganz frisch.“
Tristan erhob sein Haupt. Sie erblaßte. „Wie lange, sagtet Ihr doch, ist’s schon her, daß der Wagen Euer Gitter zerbrach?“ – „Einen Monat, vierzehn Tage, ich weiß es nicht mehr, gnädiger Herr.“ – „Soeben sagte sie noch, es wäre schon ein Jahr“, bemerkte der Soldat. – „Das ist verdächtig“, sprach der Prévot. „Gnädiger Herr“, rief sie aus, noch immer an die Luke sich lehnend und befürchtend, jene möchten aus Argwohn den Kopf hineinstecken, um in die Zelle zu sehen, „gnädiger Herr, ich schwöre Euch, ein Wagen zerbrach das Gitter. Ich schwör’s bei den Engeln des Paradieses. War es nicht ein Wagen, so will ich ewig verdammt sein und leugne Gott!“ – „Du bist ja sehr hitzig in deinem Schwur“, sagte Tristan mit dem Blick eines Inquisitors.
Die Arme fühlte, wie ihre sichere Haltung immer mehr und mehr nachließ. Sie beging Ungeschicklichkeiten und fühlte zu ihrem Entsetzen, daß sie etwas gesagt hatte, was sie nicht hätte sagen sollen.
Jetzt kam ein anderer Soldat mit den Worten hinzu: „Gnädiger Herr! Die alte Zauberin hat gelogen. Die Hexe kann sich nicht in die Straße du Mouton gerettet haben. Die Kette war die ganze Nacht hindurch ausgespannt, und der Kettenwächter hat niemand vorübergehen sehen.“
Tristan, dessen Antlitz immer mehr Unheil verkündete, fuhr die Klausnerin an: „Nun, was hast du jetzt noch zu sagen?“
Sie suchte auch diesem Unfall die Stirne zu bieten: „Was weiß ich, gnädiger Herr, ich konnte mich täuschen. Ich glaube wirklich, daß sie über den Fluß setzte.“
„Das ist ja die entgegengesetzte Seite. Es ist doch aber nicht wahrscheinlich, daß sie in die Altstadt zurückwollte, wo man sie verfolgt. Altes Weib, du lügst!“
„Auch ist keine Fähre an dieser Stelle des Wassers, ebenso wenig wie an der andern“, fügte der erste Soldat hinzu.
„Sie kann durch den Fluß geschwommen sein“, erwiderte die Klausnerin, welche Fuß für Fuß das Terrain verteidigte. – „Können Weiber schwimmen?“ fragte der Soldat.
„Gottes Haupt! Altes Weib, du lügst, du lügst“, begann Tristan aufs neue voll Zorn. „Ich habe große Lust, die Hexe jetzt zu lassen, um dich zu hängen. Eine Viertelstunde auf der Folter zieht dir vielleicht die Wahrheit aus dem Schlund. Komm, du sollst uns folgen!“
Begierig griff sie diese Worte auf. „Wie Ihr wollt, gnädiger Herr; wohlan, die Folter, ich will sie! Führt mich fort. Schnell! Schnell! Gehen wir sogleich!“ – Während der Zeit, dachte sie, wird meine Tochter sich retten können.
„Gottes Tod!“ sprach der Prévot, „welch ein sonderbarer Appetit nach der Folter! Dieses verrückte Weib ist mir unbegreiflich.“
Ein alter, grauköpfiger Sergeant der Wache trat hervor und sagte zum Prévot: „Gnädiger Herr, sie ist wirklich verrückt. Ihre Schuld ist’s nicht, daß die Zigeunerin sich losriß. Fünfzehn Jahre versehe ich schon die Wache und höre, wie sie alle Abende die Zigeunerweiber mit Flüchen ohne Ende verwünscht. Wenn wir die kleine Zigeunerin mit der Ziege verfolgen, wie ich glaube, so verabscheut sie diese vor allen.“
Gudule raffte ihre Kräfte zusammen und sprach: „Ja, die vor allen.“
Das einstimmige Zeugnis aller Sergeanten von der Wache bestätigte diese
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