Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame
Du hast recht! Oh wie furchtbar! Fluch ihnen! Rette dich!“
Sie steckte den Kopf durch die Luke, zog ihn aber schnell zurück. „Bleib“, sprach sie leise, kurz und düster, indem sie die Hand der vor Angst vergehenden Zigeunerin drückte. „Bleib! Atme nicht! Überall stehen Soldaten. Du kannst nicht fort, es ist schon zu hell.“
Ihre Augen waren trocken und brennend, einen Augenblick sprach sie nichts, ging mit großen Schritten in ihrer Zelle umher, blieb dann wieder stehen, riß sich Büschel ihrer grauen Haare vom Haupte und zerriß sie dann mit den Zähnen. Plötzlich sprach sie: „Sie kommen. Ich will mit ihnen sprechen. Verstecke dich dort im Winkel. Sie werden dich nicht sehen. Ich will ihnen sagen, du wärest entschlüpft, und daß ich dich losgelassen habe.“
Dann legte sie ihre Tochter (sie hielt sie in ihren Armen) in einer Ecke der Zelle nieder, die man von außen nicht sehen konnte. Sie ließ sie niederducken, legte sie so zurecht, daß weder ihre Hand noch ihr Fuß aus dem Dunkel hervorragte, band ihr die schwarzen Haare los und breitete diese über das weiße Kleid aus und stellte vor Esmeralda ihren Krug und ihren Pflasterstein, denn sie glaubte, beide würden ihre Tochter verbergen. Dann sank sie beruhigt auf die Knie und betete. Der Tag, der soeben erst angebrochen war, hatte das Rattenloch noch nicht erhellt.
In dem Augenblick erschallte die höllische Stimme des Priesters dicht bei der Zelle: „Hierher Hauptmann Phoebus von Chateaupers!“
Bei diesem Namen bewegte sich Esmeralda, die im Winkel kauerte. „Rühr dich nicht“, sprach Gudule.
Kaum hatte sie diese wenigen Worte gesprochen, als man das Geräusch von Männern, Pferden und Schwertern an der Luke hörte. Die Mutter stand schnell auf und stellte sich vor die Luke, sie zu verstopfen. Sie sah eine große Zahl bewaffneter Männer zu Fuß und zu Pferde, die auf dem Grèveplatz aufgestellt waren. Ihr Führer stieg vom Pferde und ging auf sie zu. „Alte Frau“, sprach dieser Mann mit harten und wilden Zügen, „wir suchen eine Hexe, um sie zu hängen, und man sagte uns, du müßtest sie haben.“
Die arme Mutter nahm, soviel es ihr möglich war, eine gleichgültige Miene an und erwiderte: „Ich verstehe nicht recht, was Ihr wollt.“ Der andere sprach: „Gottes Haupt! Welch ein Lied sang denn der verrückte Archidiakonus? Wo ist er?“ – „Gnädiger Herr“, sprach ein Soldat, „er ist verschwunden.“ – „Altes, verrücktes Weib, lüge nicht“, sprach der Befehlshaber. „Man gab dir eine Hexe zur Bewachung. Wo ist sie geblieben?“
Die Klausnerin wollte, um keinen Verdacht zu erwecken, nicht alles leugnen und erwiderte in mürrischem, aufrichtigem Ton: „Meint Ihr ein großes Mädchen, das man mir soeben in die Hand gab, um es festzuhalten, so sag ich Euch, es hat mich gebissen, und ich ließ es laufen.“
Der Kommandant schnitt das verdrießliche Gesicht getäuschter Erwartung. „Lüge nicht, altes Gespenst“, begann er aufs neue; „ich heiße Tristan l’Hermite und bin Gevatter des Königs.“ Dann fügte er hinzu, indem er auf dem Grèveplatz seinen Blick umherschweifen ließ: „Der Name findet hier Widerhall.“ – „Und wärt Ihr der Satan l’Hermite“, erwiderte Gudule, die wieder Hoffnung faßte, „so könnte ich Euch nichts anderes sagen, als daß ich mich vor Euch nicht fürchte.“
„Gottes Haupt“, sagte Tristan, „du bist mir eine Gevatterin. So! Die Hexe hat sich gerettet; wohin ist sie gelaufen?“
Gudule erwiderte in sorglosem Ton: „Ich glaube, in die Rue du Mouton.“
Tristan wandte den Kopf und gab den Leuten ein Zeichen, sich wieder in Marsch zu setzen. Die Klausnerin atmete freier. „Gnädiger Herr“, sprach plötzlich einer der Häscher, „fragt doch die alte Zauberin, warum die Eisenstangen ihres Gitters zerbrochen sind.“
Die unglückliche Mutter begann aufs neue zu zittern, verlor aber nicht ganz ihre Geistesgegenwart. „Sie sind schon lange so gewesen“, stammelte sie. – „Bah!“ wandte der Häscher ein, „noch gestern war hier ein schönes, schwarzes Kreuz, das Andacht erweckte.“
Tristan warf einen Seitenblick auf die Klausnerin: „Ich glaube, die Gevatterin wird verlegen.“
Die Unglückliche fühlte, alles hinge von ihrer Fassung ab. Den Tod im Herzen, begann sie zu lächeln. Mütter besitzen solche Kraft. „Bah!“ sprach sie, „der Mensch ist betrunken. Jetzt ist es schon länger als ein Jahr, daß ein Wagen voll Steine auf meine Luke fiel und
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