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Der glücklose Therapeut - Roman

Der glücklose Therapeut - Roman

Titel: Der glücklose Therapeut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noam Shpancer
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Tatsachen gefällt wurden, sondern aus einem Bedürfnis heraus, die Öffentlichkeit zu beruhigen, ein bestimmtes Bild zu vermitteln oder Geld zu sparen; von der Zwangslage echter menschlicher Wesen gar nicht zu reden, die, wie er beharrlich behauptete, die meisten Patienten – im Gegensatz zu den meisten Verwaltungsangestellten – noch immer waren.
    » Die armen Teufel können einem leidtun « , sagte er einmal während eines unserer Chili-Mittagessen in der Cafeteria zu mir. » Wir haben das große Privileg zu sagen, dass wir nichts wissen; wir können unsere Antworten auf später verschieben. In der Verwaltung müssen sie auf der Stelle Entscheidungen treffen und daran glauben, dass diese Entscheidungen richtig sind. Deshalb behaupten sie immer, sie wüssten Bescheid, und mit der Zeit fangen sie an, ihren eigenen Behauptungen zu glauben; natürlich tun sie das, denn das liegt in der Natur des Menschen, Jingele. Als ich noch ein Kind war, in Warschau vor dem Krieg, bevor unsere Welt mit dem Kindergesicht in den Spiegel blickte und dort einen Dämon erblickte, so wie es unseren Patienten manchmal im Badezimmer ergeht … und wir sie krank nennen … Ach … keine Schrift an der Wand ergibt irgendeinen Sinn. Keine Chance. Wo war ich gerade? Ja … als ich noch ein Kind war, habe ich einmal beschlossen, meinen Freunden einen Streich zu spielen. Ich rannte auf den Spielplatz und rief: ›Der Maronimann ist da!‹ Da rannten sie alle los, um geröstete Kastanien zu kaufen. Und ich ertappte mich plötzlich dabei, dass ich hinter ihnen herlief und rief: ›Hey, wartet auf mich‹, und Angst hatte, ich könnte etwas verpassen. Ach, diese kleinen Verwaltungsmenschlein hier … sehen Sie, sie stellen sich eine Kuh vor und schmecken echte Milch. Ach … « Er warf mir einen Blick zu, als wäre er resigniert und unendlich bestürzt über meine offensichtliche Unfähigkeit, auf den rasenden Zug seiner Gedanken aufzuspringen. Ich musste daran denken, dass man sich manche Menschen unmöglich in einer anderen Form oder Umgebung vorstellen konnte als in der, in der man sie kennengelernt hat. Helprin war einer dieser Menschen – ich hatte das Gefühl, als sei er immer ein alter Mann gewesen, besessen von seinem Drang zu verstehen und der Erkenntnis, dass dies vergeblich war. Ich konnte ihn mir nicht als unschuldiges Kind vorstellen, das gerne geröstete Kastanien essen wollte. Doch genau wie der Verwaltungsapparat der Klinik ist auch das System der Rollenzuweisung in der Welt hoffnungslos unzureichend, da jemand, der sich wie Helprin wahrhaft auskannte im Umgang mit menschlichem Leid, es niemals zu echtem Einfluss bringen würde in einer Organisation, die eigentlich dafür bestimmt ist, dieses Leid zu lindern.
    Ich hatte noch nicht einmal die Hälfte meines Jahres als Praktikant hinter mir, als ich aus der Klinik wegwollte. Das Elend der Patienten überwältigte mich ebenso wie das Elend des Personals; diesem gehörten damals noch einige ältere Psychiater der psychoanalytischen Schule an, die darauf bestanden, ihre armen Patienten einer tiefenpsychologischen Behandlung zu unterziehen, indem sie in den Abgründen längst verlorener Kindheitserinnerungen vergeblich nach den Ursachen für deren Erkrankung suchten.
    Dazu kamen noch etliche neue Fakultätsmitglieder, die einer gerade aktuellen postmodernistischen Lehre anhingen und sich mit allem Schwung ihrer frisch erworbenen Überzeugungen einbrachten, ehe sie später vermutlich von der Wirklichkeit eingeholt wurden. In ihren Augen handelte es sich bei Schizophrenie um eine Willenssache, einen Lebensstil, eine Art »Anderssein«, dem mit Respekt begegnet und dem alle Rechte gewährt werden müssten, die einem andersartigen Lebensstil in unserer Kultur zugestanden werden. Denn, wie sie kraft einer Überzeugung wussten, wie nur jemand sie aufbringen kann, der sich jedem Wissen widersetzt, gibt es dieser Lehre zufolge keine Geisteskrankheiten, lediglich verschiedene Geistesformen, von denen eine jede akzeptiert und unterstützt werden sollte, statt dass man sie verurteilte, mit einem Etikett versah und ihr die freie Meinungsäußerung verweigerte.
    » Ach, diese Spaßvögel « , wütete Helprin, » sie sind so verliebt in die Theorie. Natürlich, die Theorie rennt nicht brüllend und splitternackt durch die Flure, steckt sich keinen Gewehrlauf in den Rachen, hat keine Visionen, in denen Kleopatra in der Cafeteria Haferbrei serviert. Was ist ›Freiheit‹, Jingele? Eine Abstraktion

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