Der glücklose Therapeut - Roman
und nur für den intakten, voll entwickelten Geist zu haben, wenn überhaupt. Eltern, die ihr Kind auf der Straße herumstreunen lassen, gewähren sie ihm Freiheit? Nein, sie gewähren ihm Angst und Schrecken. Ach, wenn diese Spaßvögel sich auch nur einmal eine Minute lang tatsächlich auf den Menschen konzentrieren würden, der vor ihnen sitzt, dann würden sogar sie feststellen, dass das oberste Recht eines Menschen darin besteht, dass man ihn als Mensch sieht, nicht als Theorie. Sie würden sehen, Jingele, dass es keine ›Wahl‹ gibt, keinen ›Stil‹ und kein ›Leben‹, nur Hilflosigkeit, Terror und Chaos. «
» Im 19. Jahrhundert « , erzählte er mir gegen Ende meines Jahres, » wusste jeder, dass es sich bei Schizophrenie um eine Geisteskrankheit handelt. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts – diesem gnadenlosen Jahrhundert, Sie haben sicher schon einmal davon gehört – konzentrierten sich sämtliche Forscher darauf, die Antwort im Gehirn zu finden. Ihr Mangel an Erfolg – vor allem aufgrund technischer Probleme – öffnete den Psychogenesetheorien, den Dynamiktheorien, den ›Schuld-der-Mutter‹-Theorien, dem Postmodernismus und dem ganzen anderen Gefasel Tür und Tor. Und nachdem dieses Tor einmal geöffnet war, war es unmöglich, es wieder zuzumachen. Die Theorie-Barbaren drängten herein und besetzten das Haus … Ach, Jingele. «
» Was können wir also tun? « , fragte ich.
» Wir müssen ein neues Haus bauen « , sagte er.
Seine Augen leuchteten, als er das sagte. Er war noch immer von rechtschaffenem Zorn erfüllt, noch immer von einem Willen zur Wahrheit getrieben, noch immer darauf erpicht, den Code zu entschlüsseln. Ich sah ihn an, und mir war klar, er würde sein neues Haus ohne mich bauen müssen.
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D u lässt zu, dass der Klient die Behandlung diktiert « , sagte John Savoia, als ich ihm von meiner Begegnung mit Barry Long im Busbahnhof erzählte. » Die therapeutischen Entscheidungen obliegen deiner Verantwortung, nicht seiner. Er kann nicht kommen und gehen, wie es ihm passt. Und solange er dein Klient ist, bekommt er nicht die Art von Behandlung, die er eindeutig braucht, nämlich als Patient in einem Krankenhaus, wie wir beide wissen. «
» Ja « , antwortete ich, » aber er weigert sich, in ein Krankenhaus zu gehen. Man kann ihn nicht dazu zwingen. Und vielleicht hat er noch andere wichtige Bedürfnisse – vielleicht nach Beistand und menschlichem Kontakt? Müssen wir nicht auch die Wünsche des Klienten in unsere Behandlungsentscheidungen einfließen lassen? Die Behandlung beginnt, weil der Klient sagt, es gehe ihm schlecht. Sie endet, wenn er sagt, es gehe ihm besser. Barry Long sagt, er fühle sich in meiner Obhut besser. «
» Nicht wenn wir es mit Schizophrenie zu tun haben « , sagte John entschieden. » Du musst ihm zumindest klarmachen, dass es nur dann möglich ist, dich weiterhin zu sehen, wenn er einwilligt, eine Klinik aufzusuchen. «
» Er weigert sich. Er hat Angst vor Krankenhäusern. «
» Das ist natürlich ein Symptom seiner Krankheit « , erwiderte John, » und beweist, dass seine Einweisung zwingend notwendig ist. Du musst das Symptom als Symptom behandeln. «
» Ich muss den Menschen als Menschen behandeln. Und um ihn zu behandeln, muss ich mich weiter mit ihm treffen. Wenn ich ihn unter Druck setze, in ein Krankenhaus zu gehen, wird er wahrscheinlich verschwinden, und was dann? «
» Wenn er dein professionelles Urteil und deinen Rat, sich in eine Klinik einweisen zu lassen, missachtet, dann wirst du ab einem bestimmten Punkt die Grenzen deiner Möglichkeiten erkennen und entsprechend handeln müssen « , sagte Savoia. » Du solltest Barmherzigkeit nicht mit Mitleid verwechseln. Jenseits eines gewissen Zeitfensters wirst du zu einem Teil seines Krankheitsbilds, statt zu einem Teil des Heilungsprozesses. Er spielt mit dir. Pass auf. Ich garantiere dir, dass er dich in ein paar Monaten wegen irgendetwas um Hilfe bittet, dich bittet, für ihn irgendein Dokument zu unterschreiben. Hilflosigkeit bedeutet echte Macht, David. Vergiss das nicht. Menschen können ihre Krankheit für eine Lüge missbrauchen, selbst wenn diese Krankheit der Wahrheit entspricht. Die Schwerstkranken sind in einem System immer die Stärksten, weil jede Entscheidung sich nach ihnen richten, weil jeder sich um sie kümmern muss. Wie auch immer, wir haben im Rahmen unserer wöchentlichen Behandlungen nicht die Möglichkeit, ihm tatsächlich zu helfen. Das ist die
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