Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der glücklose Therapeut - Roman

Der glücklose Therapeut - Roman

Titel: Der glücklose Therapeut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noam Shpancer
Vom Netzwerk:
passieren, wenn jemand, vielleicht Ihre Frau – die eine Heilige sein muss! –, mit Ihnen diesen Rollentausch praktizierte, Ihnen sagen würde, was Sie denken und fühlen? «
    » Ich würde wahnsinnig werden. «
    » Genau! Irgendwann fiel der katatone Patient Rogers schließlich ins Wort und sagte: ›Wovon reden Sie eigentlich? Das denke ich ganz und gar nicht!‹ Und dann sagte Rogers: ›Das ist also nicht, was Sie denken …‹, und damit begann ein Dialog, verstehen Sie. «
    » Ich verstehe. «
    » Rogers hatte dieses gewisse Etwas. «
    » War dieser Rollentausch bei der Arbeit mit Katatonen eine Hilfe? « , fragte ich.
    » Natürlich nicht. «
    Ich saß da und schwieg, die Stirn in Falten gezogen.
    » Ich brauche Leute mit dem gewissen Etwas « , sagte er, » und Sie haben es nicht. Was machen wir also mit Ihnen, Jingele? «
    » Vielleicht kann ich dieses gewisse Etwas lernen. Das würde ich gerne … «
    » Wir haben keine Zeit. Wissen Sie, was das bedeutet, Zeit? … Sehen Sie mich an, Jingele, ich bin alt. Ich falle auseinander. Ach! Die Zeit ist ein weiser Lehrer, tötet aber ihre Schüler … « Er deutete auf seine dicke Brille: » Ich bin auf der Suche nach einem, der Biss hat … «
    » Ich lerne schnell « , sagte ich störrisch.
    Der alte Professor sah mich an, und seine Augen funkelten vor Neugier und Freude. Er runzelte seine ohnehin schon tief gefurchte Stirn, klopfte sich auf den Schenkel und sagte: » Sie sind einer von der störrischen Sorte, nicht wahr? Ach … Jingele. Kommen Sie, gehen wir zusammen Mittag essen; ein Teller vom berühmten Dienstags-Chili aus der Cafeteria wird uns guttun. Danach sehen wir weiter. Vielleicht finden wir im Labor etwas für Sie. Früh aufstehen und bei der Arbeit erscheinen, das können Sie, nicht wahr? Ich sehe, dass Sie das können. «

19
    V or meiner Zeit im Larsen P. Clark schwelgte ich häufig in Phantasien über meine Zukunft als Abteilungsleiter in einem psychiatrischen Krankenhaus wie diesem. Vor meinem inneren Auge sah ich mich mit wehenden weißen Kittelschößen durch die Gänge schreiten; ich stellte mir eine Traube von jungen Assistenzärzten vor, die sich mit ihren Klemmbrettern in der Hand an meine Fersen hefteten, sich gegenseitig anrempelten und die Hälse reckten, um jedem meiner Worte zu folgen – prägnanten Worten voller Mitgefühl –, und Patienten, die dankbar nickend auf der Bettkante saßen. Ich dachte, mit einem Job wie diesem würde aus mir so etwas wie ein richtiger Arzt werden, jemand, der mit schwungvoller Geste schicksalsschwere Dokumente unterschrieb, wie mein Vater es in Gedanken für mich vorgesehen hatte, als er noch klare Gedanken gefasst hatte oder zumindest Gedanken, die man auf irgendeine Weise nachvollziehen konnte. Denn die Alzheimerkrankheit hatte sich bereits damals bei ihm eingeschlichen, grub sich in ihn hinein, fraß sein Gehirn. Er war erst Ende sechzig. Je mehr er seine Erinnerung an mich und die Träume, die er für mich gehabt hatte, verlor, desto größer wurde mein Ehrgeiz, sie zu erfüllen. Aus diesem Grund war ich fest davon überzeugt, das Leben in einem Krankenhaus sei meine Berufung.
    Doch diese Berufung überdauerte nicht einmal mein Jahr als Praktikant. Selbst von außen, hoch aufragend zwischen mächtigen Kiefern und weitläufigen Rasenflächen, kam mir das Klinikgebäude mit seinen trutzigen Mauern und den verbarrikadierten Fenstern falsch vor, wie das Monument einer spektakulären Niederlage. Im Innern waren die Flure in gebrochenes weißes Licht getaucht. Unter den niedrigen Decken hing ein durchdringender Geruch, eine Mischung aus Putzmitteln, schlechtem Essen und Verzweiflung. Jeden Morgen eilten die Psychiater durch die Abteilung, gingen von Zimmer zu Zimmer, hoben einen schlafenden Katatonen vom Fußboden auf und kritzelten etwas auf ihre Klemmbretter, um jenseits der verschlossenen Türen wieder in ihren Büros zu verschwinden und die verwirrten Patienten der Gnade der Krankenpfleger zu überlassen – einer Ansammlung von Highschool-Absolventen, die für einen Hungerlohn arbeiteten. » In der eisernen Logik des psychiatrischen Systems « , sagte Helprin immer wieder, » hat einer umso mehr Zeit für die bedürftigsten Patienten, je schlechter seine Ausbildung ist. «
    Helprin, als leidenschaftlicher Wissenschaftler, der er war, empfand für die Klinikverwaltung eine tiefe, instinktive Verachtung. Er verabscheute die Art, wie politische Entscheidungen nicht aufgrund wissenschaftlicher

Weitere Kostenlose Bücher