Der glücklose Therapeut - Roman
Realität. «
» Von welchem Zeitfenster sprechen wir eigentlich? « , fragte ich.
» Darin musst du dich auf dein professionelles Urteil verlassen. Du bist ein freier Mitarbeiter unserer Einrichtung. Meiner Meinung nach ist diese Zeit bereits verstrichen. «
» Meiner Meinung nach nicht « , widersprach ich.
John Savoia musterte mich. » Du verstehst doch, dass ich in dieser Sache nicht dein Feind bin, David? «
» Ja, das verstehe ich. «
» Trotzdem bestehst du darauf, ihn weiter zu sehen. Warum? «
» Er hat sonst niemanden. «
» Du sagtest, er habe eine Freundin. «
» Sie ist behindert und hat eigene Probleme. Das ist nicht dasselbe. «
» Du bewegst dich außerhalb deines Fachgebiets. Wir haben hier nicht die Möglichkeiten, ihm zu helfen. Du hast nicht die Möglichkeiten. Und darüber hinaus ist es in unserem Beruf verboten, sich zum Märtyrer zu machen. Um Märtyrer zu werden, solltest du in den Mittleren Osten gehen und dich zum Sprengstoffexperten ausbilden lassen. Vielleicht erwarten dich ganz neue Karrierechancen … «
» Niemand hat diese Möglichkeiten « , sagte ich. » Wenn wir von Schizophrenie sprechen, dann weißt du genauso gut wie ich, dass niemand diese Möglichkeiten hat. Aber bedeutet das im Ansatz nicht, den Klienten im Stich zu lassen? Schließlich ist er auch depressiv, und ich behandle Depressionen. « Ich war plötzlich wütend. » Er hat fünf andere Therapeuten verschlissen, ehe er sich für mich entschieden hat « , sagte ich. » Er sagt, er vertraue mir; er sagt, ich tue ihm gut. Ist das nicht auch etwas wert? «
John wiederholte ruhig, dass ein Psychologe es nicht riskieren sollte, sich außerhalb seines Fachgebiets zu bewegen, dass ich nicht zulassen dürfe, dass der Klient seine Behandlung diktiere; dass hier nicht die Rede davon sei, den Klienten im Stich zu lassen. Doch ich war nicht überzeugt. Vielleicht weil ich nicht glaubte, dass John Savoia viel darüber wusste, was es hieß, verlassen zu werden.
Er hatte vor nicht allzu langer Zeit Brandy geheiratet und sein erstes Kind bekommen, einen lebhaften blonden Jungen, der ständig blinzelte wie sein Vater. John Savoia war Ehemann einer jungen Frau und ein später Vater – eine Doppelbelastung –, und dennoch kam er jeden Morgen strahlend und voller Schwung zur Arbeit, vom frischen Duft eines teuren Eau de Cologne umweht; er schwenkte seinen Aktenkoffer, scherzte mit den Sekretärinnen an der Rezeption und brachte mit seiner ganzen Person vor aller Welt zum Ausdruck, dass sein Leben erfolgreich verlief und dass das auch in Zukunft so bleiben würde.
Während meines Vorstellungsgesprächs bei ihm, gegen Ende meines Jahrs als Praktikant im Larsen P. Clark Hospital – unmittelbar nachdem ich Helprins Angebot, mich seinem Forschungsteam anzuschließen, abgelehnt hatte –, war mir John Savoia aufrichtig und tüchtig erschienen. Er hatte mich mit einer Mischung aus Beflissenheit und Vorsicht beäugt, so wie ein potentieller Käufer ein Möbelstück aus dem Fundus eines bankrotten Adligen begutachtet. Er sagte, er sei immer auf der Suche nach jungen Fachleuten, die etwas zur Expansion seiner Klinik und zu ihrem guten Ruf beitragen könnten. Er stellte mich Theresa und dem übrigen Personal vor. Er erklärte mir die Regeln: » Sie sind ein freier Mitarbeiter. Ihr Einkommen geht zu sechzig Prozent an Sie, der Rest geht an die Einrichtung. Wir kümmern uns um den Schriftverkehr, die Versicherung, das Marketing und ausreichend Klienten, um die Verwaltungsseite. Sie behandeln die Klienten, das ist alles. «
Mit der Zeit lernte ich ihn zu schätzen und zu respektieren: seinen klaren Verstand, seine Gewissenhaftigkeit, seine bedächtige, Autorität ausstrahlende Art und sein heroisches, wenn auch vergebliches Bemühen, mich zu gutem Wein zu bekehren.
John hält sich für einen idealen Therapeuten von depressiven Klienten, da er selbst keinerlei Erfahrung mit Depressionen hat. » Das ist der jüngste Trend innerhalb der Therapeutengemeinde « , erklärte mir John, » diejenigen, die von ihren Wunden geheilt sind, als perfekte Kandidaten für die Behandlung derer zu betrachten, die immer noch an diesen Wunden leiden. Ehemalige Alkoholiker, die Alkoholiker behandeln, ehemalige Traumapatienten, die traumatisierte Patienten therapieren, ehemalige Sträflinge, die Ethikunterricht erteilen, ehemalige Bankrotteure als Vermögensverwalter. « Er machte eine Pause und schüttelte den Kopf. » Die Logik scheint glasklar und ist von
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