Der Gluecksmacher
gemeinhin als derbe Schimpfwörter gelten. Ihrem persönlichen Coach sollte sie später erzählen, dass sie die
Technik des kontrollierten Ausrastens
angewandt hatte, zur Einbindung und Solidarisierung der übrigen Mitarbeiter.
Was kaum jemand wusste und je erfuhr: Irene Großburg hatte ein weiches Herz. Ein geradezu verletzlich weiches Herz. Ja, sie sehnte sich danach, wirklich jung und frisch und per du und kollegial und großmütig und locker zu sein. Doch irgendwie kam ihr immer etwas dazwischen, irgendwie war sie viel zu oft gezwungen, hart zu sein, kompromisslos und unerbittlich. Weil ausnutzen lassen wollte sie sich nicht. Und niemand, wirklich niemand brauchte glauben, er könne sie für dumm verkaufen. Sie war gewiss nicht das blauäugige, protegierte Unternehmerstöchterchen, für das sie viele halten mochten. Von Kindheit an hatte sie kämpfen müssen. Jede Kleinigkeit hatte sie sich erkämpfen müssen, jede nette Geste des Vaters auch.
Im Leben wird einem nichts geschenkt
– das war sein Credo, und ihr Vater tat alles, es der Tochter, seinem leider einzigen Kind, täglich in Erinnerung zu rufen. Kindermädchen Anne war die Einzige, die sich getraute, Vaters Diktat manchmal zu sabotieren, im Geheimen freilich. Dann steckte sie dem dürren Mädchen, das sie damals gewesen war, einen Zimtstern zu oder strich ihm zärtlich übers Haar, einfach so, ohne dass sie genau wusste, mit welcher Leistung die Zuneigung verdient worden war. Bemerkte es der Vater, wurde Anne gerügt:
Verhätscheln Sie das Kind nicht, Sie werden dafür bezahlt, Irene zu erziehen, nicht, sich einzuschmeicheln!
Annesolle sich nicht als liebevolle Mutter aufspielen, das stünde ihr nicht zu. Niemand, schrie der Vater, niemand, niemand, niemand könne ihre Mutter ersetzen.
Der Vater hatte es all die Jahre gewiss nicht leicht gehabt und es nur gut gemeint mit ihr. Es war seine Art gewesen, sie aufs Leben vorzubereiten. Und es stimmte schon, in dieser Welt war es gar nicht so leicht, nett zu sein. Man musste auf der Hut sein, besonders als Frau.
Als Dimsch sein Büro verließ, um der Chefin zwei Stockwerke höher die Konsumentenumfrage
Wunsch versus Wirklichkeit
zu präsentieren, bemerkte er, dass er heute Morgen wegen der Vorfreude aufs Lesen völlig vergessen hatte, seine beiden jungen Mitarbeiter Sabine und Robert zu begrüßen. Er blickte auf die Uhr. Für ein kurzes
Hallo
war noch Zeit. Er klopfte, öffnete, rief »guten Morgen!«.
Sabine zuckte zusammen. Und es schien Dimsch, als habe sie irgendetwas unter ihrem Tisch verschwinden lassen.
»Guten Morgen«, antwortete sie, lächelte ihm freundlich zu und winkte mit beiden Händen, als stünde sie hoch oben an der Reling eines eben auslaufenden Kreuzfahrtschiffs.
»Alles klar?« Dimsch zwinkerte ihr zu.
»Alles klar!« Und weil sie witzig sein wollte, kniff Sabine, ihren Chef nachahmend, ein Auge zu. Gleich darauf fiel ihr ein, spaßeshalber auch noch salutieren zu können. Dazu rief sie: »Aye aye, Sir!«, das eine Auge weiterhin zugedrückt.
Rasch lächelte Dimsch, winkte, schloss die Tür und hörte noch, dass sie ihm hinterher rief: »Übrigens, Chef, lässiges neues Outfit!«
Vor Roberts Büro erwog Dimsch, einfach weiterzugehen, klopfte nach einigem Hin und Her schließlich doch. Plötzliches Rumoren im Zimmer.
Dimsch wartete … lauschte … klopfte abermals.
Geräuschvolles Rücken und Schieben.
»Robert?«
»Herein! Nur hereinspaziert!«
Dimsch öffnete die Tür. Inmitten des kleinen Zimmers türmten sich Papier- und Zeitungsstöße rund um den Schreibtisch. Es sah aus wie eine kleine Burg, eine Befestigungsanlage. Dahinter hockte, gerade noch zu sehen, Robert, bleckte die Zähne.
»Guten Morgen, junger Mann.« Dimsch hob fragend die Augenbrauen.
»Morgen, Chef! Neuer Pullover?«
»Ja, ja. Schon gut. Und bei dir alles klar?«
»Jo, alles klaro.«
Dimsch schüttelte den Kopf, schloss die Tür.
In Zukunft lass ich sie in Ruhe, dachte er. Solange die beiden ihre Aufgaben ordentlich erledigen würden, sollten auch sie die Vorzüge der abgelegenen Büros genießen. Sicher harmlos, was sie da treiben, sagte sich Dimsch im Gehen, verlangsamte erst nach einer Weile seine Schritte.
»Hm.« Nachdenklich strich er sich übers Kinn.
6
Jenseits des ersten Drittels einer Sekunde verliert die Zeit an Qualität. Entscheidend sind die ersten drei Zehntel der allerersten Sekunde. Während dieses Augenblicks legt das menschliche Gehirn fest, ob der erste Eindruck, den ein
Weitere Kostenlose Bücher