Der Gluecksmacher
Horizont sich ihm auftat, welch Ideenreichtum! Schon immer irgendwie Geahntes bekam plötzlich Namen und Gestalt, wurde fassbar, schloss sich ihm auf. Sinn fügte sich an Sinn, wurde klar und klarer, und alles schien zu münden in einer lang ersehnten, unübertrefflich befreienden Logik. Als er ein leises Scharren hörte, sah Dimsch zur Seite – und da war eine Maus.
Er blickte zu ihr nach unten, und sie blickte zu ihm nach oben. Beide waren überrascht, Dimsch und die Maus. Beide hatten bis vor kurzem gedacht, das Zimmer für sich alleine zu haben. Und beiden klopfte das Herz einige Takte schneller als gewöhnlich. Dunkelgrau, fast schwarz war sie, die Maus, und nicht viel größer als ein Radiergummi. Sie hob das Köpfchen, und weil sie schnupperte, vibrierten ihre Schnurrhaare. Dimschs Geruch schien ihr verträglich. Flinkäugig prüfte sie die Umgebung und sprintete dann im Zimmer eine Runde, dass es den Abteilungsleiter für Meinungsforschung und Statistik vor Schreck auf seinem Bürosessel herumriss und er nach einer Drehung gerade noch sah, wie die Maus unerhört wendig unter einem Heizkörper in den Boden abtauchte.
Ein paar Sekunden lauschte Dimsch mit angehaltenem Atem dem leiser werdenden Trippeln nach. Als trotz Hinunterbeugens nichts mehr zu vernehmen war, kein Knistern, kein Knabbern, kein Kratzen, kniete er nieder, stützte sichmit den Händen ab, und als seine Wange den Boden berührte, entdeckte Dimsch im Schatten des Heizkörpers, nahe dem Mauereck, das Loch im grauen Filz.
Er getraute sich nicht, mit dem Finger die Tiefe der Öffnung zu erforschen, was lächerlich war, das wusste er, was sollte schon passieren, er würde wohl nicht nach unten gezogen werden von dunklen Mäusemächten. Dennoch stand Dimsch auf, um einen Bleistift zu holen und besser den anstatt des Fingers in die Öffnung zu schieben.
Das Loch war kaum zwei Finger breit. Die Höhlung führte einen viertel Bleistift lang senkrecht nach unten, um dann in einem schräg abfallenden Knick ins scheinbar Waagrechte überzugehen. Unglaublich, diese kleine Maus hatte nicht nur den grauen Filzboden durchgenagt, sondern sich darunter glattweg durch betonharten Estrich gefräst. Das war eine Leistung, die Dimsch zumindest ebenso respekteinflößend empfand wie jene der fingernagelkleinen Heuschrecken, die er sommers beobachtet hatte, wie sie mit nur einem Satz eine Distanz überbrückten, die dem Hundertfachen ihrer Körperlänge entsprach. Wie unbedeutend dagegen wir Menschen sind, dachte Dimsch. In einer einzigen Disziplin haben wir die Chance, mehr zu leisten als Tiere, nämlich beim Denken, und was tun wir mit dieser Möglichkeit? Nur in Glücksfällen nutzen wir sie für tiefere Gedankengänge, für intellektuelle Himmelssprünge; stattdessen ausgiebig, ja verschwenderisch für Banalitäten. Gerade so, als würde die Maus nur an der Oberfläche kratzen, anstatt ein Labyrinth an Möglichkeiten zu schaffen, und die Heuschrecke sich damit begnügen, den ein oder anderen lustlosen Hopser zu tun.
Dimsch kniete noch immer am Boden, seine Hände strichen über den borstigen Filz. Er dachte an die Maus. Andächtig, beinahe zärtlich wurde ihm dabei. Und weil ihm die Träumereiselbst nicht ganz geheuer war, richtete er sich auf, schob den Bürosessel unter seinen Hintern und griff wieder zum Buch.
Er fand nicht gleich die Stelle, an der er unterbrochen hatte, erinnerte sich aber, dass er von Epikur zuletzt aufmerksam gemacht worden war, in welch dichtmaschigem Geflecht von Alltagsverpflichtungen nicht bloß hohe Würdenträger verwoben waren, etwa Politiker und Unternehmer, sondern auch die gewöhnlichsten Bürger, kurzum er, und dass es gelte, exakt hier anzusetzen, denn wahrhaftes Glück sei nur möglich durch
innere Unabhängigkeit von äußerem Zwang
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Da ging, wie dramaturgisch bestellt, eine E-Mail von Irene Großburg ein. Der einzige Satz der Chefin war mit fünf Rufzeichen versehen.
Wann bekomme ich endlich die Wunsch-Wirklichkeits-Umfrage!!!!!
Diese acht Wörter, diese fünf Rufzeichen, dieser eine Ton reichten aus, um Dimsch in Sekundenschnelle von einer Welt in eine andere zu befördern. Von jener der hochfliegenden Gedanken und friedlichen Ausgeglichenheit in jene der niederschmetternden Dumpfheit und aggressiven Hektik. Und obgleich er bemerkte, dass diese E-Mail einer Geisteshaltung entsprang, die nicht ernst genommen werden sollte, fügte sie ihm einen Schmerz zu, so pfeilschnell, dass sein Verstand sich nicht rasch genug
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