Der goldene Kelch
würde nach Hause gehen – das ging schließlich nicht anders –, aber später; erst musste er nachdenken.
Hinter den Feldern verjüngte sich der Weg zu einem schmalen Pfad, der sich durch das Röhricht am Flussufer schlängelte. Der Boden war matschig, Binsen, Schilf und Papyrus wuchsen aus seichten Wasserlachen. Je weiter Ranofer auf dem Pfad ging, desto seltener wurden die Sträucher, dafür wuchsen büschelweise raschelnde, schlanke Gräser, die Ranofer überragten. Bald watete er mehr, als dass er ging, aber der dicke, weiche Schlamm tat seinen Fußsohlen gut, und er ging ziellos und versonnen weiter. Er versuchte, sich selbst davon zu überzeugen, dass sein Verdacht unbegründet war. Vielleicht hatte ein Lehrjunge Goldstaub in seinen Sandalenriemen versteckt, oder der andere Gehilfe…
Es nützte nichts. Das fehlende Gold, der Wein, den Gebu immer haben wollte, aber nie trank, der grinsende Babylonier mit seinem durchdringenden Blick und seinen beharrlichen, angeblich harmlosen Fragen – alles passte ins Bild, und das Bild war scharf. Aber was sollte er tun? Wenn er Ibni bei Rekh anschuldigte, beschuldigte er auch Gebu, und wenn er Gebu beschuldigte… Ranofer war stehen geblieben und kaute an seinem Daumennagel. Er zitterte schon beim Gedanken daran, was passieren würde, wenn er Gebu beschuldigte. Andererseits musste das Stehlen ein Ende haben, und er war der Einzige, der ihm ein Ende setzen konnte. Wenn er einfach nur damit drohte zu sagen, was er wusste…? Inzwischen war er am Sumpf angekommen. Dort wuchsen keine Sträucher mehr, sondern nur noch Papyrus, der den Nil an den seichten Stellen zu beiden Seiten säumte. Er wollte sich gerade umdrehen und auf den trockenen Pfad zurückgehen, da raschelten die Gräser hinter ihm. Er fuhr herum.
„Guten Abend, Junge!“, hörte Ranofer eine überraschte Stimme. Zwischen den Papyrusstauden tauchte plötzlich ein alter Mann auf; er steckte bis zu den Waden im braunen Schlamm. Sein Rücken war gebeugt und seine Haut ledrig, auf einem Auge war er blind, und seine Haare sahen aus wie grober weißer Leinenzwirn. Seine nackten Knie, der Schendjti und seine knotigen Hände, die die Stängel auseinander hielten, waren voller Schlammspritzer. Er zog einen kleinen, alten Esel hinter sich her, der schwer mit Papyrusstängeln beladen war. Der Mann betrachtete Ranofer mit leichtem Erstaunen. Ranofer hatte die beiden schon oft durch die Straßen der Totenstadt hinken sehen, ihr plötzliches Auftauchen hatte ihn aber zu Tode erschreckt.
„G-guten Abend, Gevatter“, stammelte er, als er sich von seinem Schreck erholt hatte.
„Du kannst ja sprechen!“, bemerkte der Alte. „Ich habe mich schon gefragt ob der Große Gebieter, das Krokodil, dir die Zunge gestohlen hat.“
„Der Große Gebieter? Sprichst du von Sobek, dem Krokodilgott, oder nur von dem schlammigen Runzelgesicht da im – “
„Pst! Leise, mein Junge!“ Der alte Mann warf einen halb belustigten, halb angsterfüllten Blick auf den Fluss. „Seine Gottheit ist natürlich schlammig, aber was ist schon ein bisschen Schlamm? Sprich höflich über das edle Tier. Ich muss jeden Tag in Reichweite seiner Kiefer arbeiten; ich weiß, was ich sage.“
Ranofer lächelte verlegen. Das Gesicht des Alten legte sich in tausend Lachfältchen.
„Na, so was! Lotos, mein Eselchen, sieh doch – er kann auch lächeln! Vielleicht hat er gar nicht so viele Sorgen, wie wir zuerst dachten.“ Er wandte sich wieder an Ranofer: „Ist dies nicht eine merkwürdige Tageszeit, um fischen zu gehen, mein Junge? Ra ist schon vor einer halben Stunde durch das Tor des Westens gesegelt.“
„Ich… ich wollte nicht fischen“, murmelte Ranofer. Plötzlich war ihm wieder unbehaglich zu Mute. Sah man ihm seine Gedanken etwa an? Wenn das so war, dann konnte er sie auch vor Gebu nicht verbergen. Er musste also irgendeinen Weg finden, um mit der Wahrheit herauszurücken.
Er riss eine Papyrusblüte ab. „Ich w-wollte m-meiner Freundin eine Blüte brechen“, erklärte er. „Ich muss jetzt gehen, Gevatter. Möge dein Ka voller Freude sein.“ Er drehte sich schnell um und rannte den gleichen Weg zurück, den er gekommen war. Sollte der Alte doch denken, was er wollte! Ich werde Gebu damit drohen, dass ich sage, was ich weiß, entschied er, als er in der einbrechenden Dunkelheit zwischen den Feldern hindurch nach Hause eilte. Gebu wird mir versprechen müssen, dass die ganze Sache ein Ende hat. Mehr kann ich nicht tun.
In den Straßen
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