Die Kunst des Sterbens: Thriller (German Edition)
1
Trotz seiner stilvollen, zurückhaltenden Erscheinung stach Darius Qazai sofort ins Auge. Ruhigen Schrittes bahnte er sich seinen Weg durch die Kirche, bekundete nickend sein Beileid und schüttelte Hände; jedes seiner Worte kam von Herzen, jede seiner Gesten wirkte angemessen. Nach und nach nahmen die Trauergäste Platz, und Qazai setzte sich mit einer Mischung aus feierlichem Ernst und stiller Trauer in die erste Reihe. Sein Auftreten war vorbildlich und bescheiden, und Webster, der von hinten alles genau beobachtete, überlegte, ob es aufrichtig gemeint oder nur höflich war, und er fragte sich, ob er das überhaupt wissen wollte. Ein Bach-Stück wogte durch die reglose Luft.
Unter Gepolter erhoben sich die Anwesenden, und es folgten zwei Choräle: »The King Of Love My Shepherd Is«, »Thine Be The Glory«. Webster sang recht passabel, wenn auch ein wenig tief, aber die Kirche war voll besetzt, und so verlor sich sein holpriger Bass in dem anschwellenden Gesang; über der Gemeinde stiegen die klaren Harmonien des Chors empor, und neben sich hörte er Hammers nasalen Tenor. Er sang, ohne den vertrauten Worten richtig Beachtung zu schenken, und während er, im Licht der Abendsonne, das gesprenkelt durch die Buntglasfenster fiel, die gesenkten Häupter um sich herum betrachtete, fragte er sich, wer all die unterschiedlichen Trauergäste wohl waren. Neben Qazai standen die Kunden des Toten, eingehüllt in den unverkennbaren Glanz wirklich wohlhabender Menschen: zarte Sonnenbräune, makelloser Hemdkragen, entrückter Blick, die Damen einen dezenten schwarzen Hut auf dem Kopf; jenseits des Gangs saßen die Angehörigen des Toten, seine Witwe und seine beiden Söhne im Teenageralter, sie trugen Schwarz. Und die übrigen Gäste – eine zusammengewürfelte Gruppe Engländer, Amerikaner und Italiener in Tweedjacken, gemusterten Schals und leicht verknitterten Cordanzügen – waren, so vermutete Webster, Antiquitätenhändler. Insgesamt hatten sich wohl an die dreihundert Trauergäste eingefunden.
Der Priester sprach ein paar Worte, ein weiterer Choral wurde angestimmt, und dann war es Zeit für die erste Rede. Während Qazai zur Kanzel schritt und das Dutzend Holzstufen emporstieg, bemerkte Webster, wie geschmeidig seine Bewegungen waren und wie sehr er sich um einen respektvollen Gesichtsausdruck bemühte, als wollte er Befürchtungen zerstreuen, er könne mit seiner Anwesenheit das Ereignis überstrahlen. Er stand jetzt drei Meter oberhalb der Kirchenbänke und hielt, die Arme auf das Pult gestützt, eine Weile inne, um die ungeteilte Aufmerksamkeit der Gäste zu gewinnen; sein Haar und sein Bart waren schlohweiß und kurz gestutzt, und seine himmelblauen Augen leuchteten selbstbewusst. Webster kannte dieses Leuchten von Menschen, die all ihre Ziele erreicht hatten und glaubten, dass es, wenn überhaupt, nur wenige Menschen gab, die ihnen ebenbürtig waren. Bei jedem anderen hätte es wie Arroganz gewirkt, aber bei Qazai war es selbstverständlich Teil seiner Persönlichkeit.
Er redete erst, als er das Gefühl hatte, dass sich alle Anwesenden auf ihn konzentrierten, und obwohl er ohnehin eine tiefe Stimme hatte, reichte sie mühelos bis in die letzte Reihe, wo Webster die Hände über seinem Gesangbuch zusammenfaltete und lauschte.
»Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir.« Eine kurze Pause. »Ergreifende Worte. Im finstern Tal.«
Er holte tief Luft, als müsse er um Fassung ringen.
»Cyrus Mehr war ein großer Mann. Ein großer Mann und ein großer Iraner. Ein mutiger, ehrbarer und sensibler Mann. Ein Mann, der ein Vermächtnis hinterlassen hat, das uns alle überdauern wird. Ich bin stolz, ihn gekannt zu haben.« Qazai fuhr eine Weile so fort, voll der schönen Worte, bis er auf die üblichen Floskeln verzichtete und von der Beziehung zu seinem Freund erzählte. Sie hatten sich vor über zwanzig Jahren in den letzten Tagen des schmutzigen Kriegs zwischen Iran und Irak kennengelernt, bei einer Verkaufsveranstaltung für präislamische Kunst, und sich über die »doppelte Bedrohung von Krieg und Ideologie« unterhalten, der die wertvollsten Kunstschätze des antiken Persien damals ausgesetzt waren. Daraus hatte sich »eine Geschäftsbeziehung zum beiderseitigen Nutzen« ergeben, womit Qazai wohl meinte, dass Mehr mit seinem Kunsthandel für ihn im gesamten Nahen Osten Antiquitäten beschafft hatte; und im Laufe der Zeit waren die beiden Männer sich
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