Der Gotteswahn
Chemotherapie die Übelkeit und andere Beschwerden lindert. Dennoch urteilte der Oberste Gerichtshof 2005 – wiederum in Übereinstimmung mit der Verfassung –, alle Patienten, die aus medizinischen Gründen Cannabis nehmen, seien ein Fall für Verfolgung durch die Bundesbehörden (und das sogar in den wenigen Bundesstaaten, in denen diese spezielle Therapieform gesetzlich zugelassen ist). Immer wieder ist Religion die Trumpfkarte. Man stelle sich vor, die Mitglieder eines Kunstvereins würden vor Gericht vorbringen, sie »glaubten«, sie könnten mit einer bewusstseinserweiternden Droge die Werke des Impressionismus oder Surrealismus besser verstehen. Erhebt aber eine Kirche einen vergleichbaren Anspruch, gibt das oberste Gericht eines Staates ihr Rückendeckung. Eine solche Macht hat die Religion als Talisman.
Vor siebzehn Jahren wurde ich als einer unter 36 Autoren und Künstlern von der Zeitschrift New Statesman beauftragt, etwas zur Unterstützung des angesehenen Schriftstellers Salman Rushdie zu schreiben, der damals zum Tode verurteilt war, weil er einen Roman verfasst hatte. Erbost darüber, dass christliche Religionsführer und sogar einige weltliche Meinungsbildner »Mitgefühl« für die »Verletzung« und »Beleidigung« der Muslime äußerten, zog ich folgende Parallele:
Wenn die Befürworter der Apartheid ihren Verstand beisammen hätten, würden sie – nach allem, was ich weiß, wahrheitsgemäß – behaupten, die Zulassung der Rassenmischung widerspreche ihrer Religion. Dann würde ein großer Teil ihrer Gegner sich auf den Zehenspitzen davonmachen. Die Entgegnung, dies sei eine unfaire Parallele, weil es für die Apartheid keine vernünftige Begründung gebe, verfängt nicht. Das Entscheidende am religiösen Glauben, seine Stärke und sein wichtigster Stolz, ist ja gerade, dass er keiner rationalen Begründung bedarf. Von uns anderen dagegen wird erwartet, dass wir unsere Vorurteile verteidigen. Fragt man aber einen religiösen Menschen nach einer Rechtfertigung für seinen Glauben, verletzt man die »Religionsfreiheit«. 11
Damals wusste ich noch nicht, dass etwas ganz Ähnliches sich auch im 21. Jahrhundert ereignen würde. Wie die Los Angeles Times am 10. April 2006 berichtete, strengten zahlreiche christliche Gruppen an Hochschulen in den ganzen Vereinigten Staaten Gerichtsverfahren gegen die Universitätsleitungen an, weil diese die gesetzlichen Diskriminierungsverbote durchsetzten, darunter auch das Verbot, Homosexuelle zu belästigen oder zu misshandeln. Ein typisches Beispiel war der zwölfjährige James Nixon aus Ohio: Ihm wurde 2004 gerichtlich das Recht zugebilligt, in der Schule ein T-Shirt mit der Aufschrift zu tragen: »Homosexualität ist eine Sünde, Islam ist eine Lüge, Abtreibung ist Mord. Bei manchen Dingen gibt es eben nur schwarz oder weiß.« 12 Die Schulleitung hatte ihm das T-Shirt verboten – und die Eltern des Jungen klagten gegen die Schule. Ihr Standpunkt wäre durchaus vertretbar gewesen, wenn sie ihre Klage auf die im ersten Verfassungszusatz garantierte Meinungsfreiheit gestützt hätten. Aber das taten sie nicht, sondern die Nixon-Anwälte beriefen sich auf die verfassungsmäßig garantierte Religionsfreiheit. Finanziert wurde die erfolgreiche Klage vom Alliance Defense Fund of Arizona, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, »den juristischen Kampf für die Religionsfreiheit voranzubringen«.
Der Reverend Rick Scarborough, Unterstützer einer ganzen Welle ähnlicher Gerichtsverfahren, mit der die christliche Religion als juristische Rechtfertigung für die Diskriminierung der Homosexuellen und anderer Gruppen dienen sollte, bezeichnete dies als den Bürgerrechtskampf des 21. Jahrhunderts: »Die Christen gehen jetzt vor Gericht für das Recht, Christen zu sein.« 13 Auch hier gilt: Würden solche Leute für die Meinungsfreiheit vor Gericht ziehen, müsste man vielleicht eine widerwillige Sympathie für sie empfinden. Aber darum geht es nicht. Das »Recht, Christ zu sein«, war in diesem Fall offenbar gleichbedeutend mit dem Recht, im Privatleben anderer Menschen herumzuschnüffeln. Das Verfahren zur Durchsetzung der Diskriminierung von Homosexuellen wird als Gegenklage gegen eine angebliche religiöse Diskriminierung aufgebaut! Und die Gerichte machen offensichtlich mit. Wer sagt: »Wenn du mir verbietest, Homosexuelle zu beleidigen, verletzt du mein Recht auf freie Vorurteile«, kommt damit nicht durch. Sagt man jedoch: »Es verletzt meine
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