Der Graben: Thriller (German Edition)
Geisterschiff. Dort das weite Meer, hier die nordamerikanische Wüste. Die Umgebung war anders, doch in beiden Fällen gab es ein verlassenes Gefährt, dessen Benutzer verschwunden waren, trotz der deutlich sichtbaren Spuren ihrer Existenz.
Andererseits…
Vielleicht gab es eine viel einfachere Erklärung, überlegte Hans. Womöglich war der Wagen liegen geblieben, und als die Familie am Straßenrand stand, war ein anderer Wagen vorbeigekommen und hatte sie mitgenommen. Vielleicht hatten sie sich nur rasch das Nötigste geschnappt und waren zurück in Richtung Route 58 gefahren. Wahrscheinlich war es so gewesen.
Hans war schon beinahe davon überzeugt, als ihm ein intensiver, herber Zitrusduft in die Nase stieg. Vielleicht irgendeine Wüstenpflanze . Doch der Geruch war frisch und saftig. Er atmete tief durch, sodass seine Nasenflügel bebten und seine Augen sich weiteten.
Vielleicht bildete er es sich nur ein, doch er glaubte zu spüren, dass die Erde ganz leicht vibrierte. Es war nicht wie bei einem Erdbeben, eher so, als würde unter ihm etwas brodeln. Wie wenn man über einem U-Bahn-Schacht stand und unten ein Zug durchfuhr, der warme, feuchte Luftstöße nach oben wehte.
Hans war leger gekleidet, in T-Shirt und Shorts, sodass ein Großteil seiner Haut unbedeckt war. Der Luftzug blies die Haare an seinen Beinen nach oben und pustete den Saum seines T-Shirts bis hinauf in seinen Nacken. Er trat einen Schritt zurück, dann noch einen.
Er brauchte nicht den Blick zu heben, um zu wissen, dass der Himmel wolkenlos war. Dies war kein gewöhnlicher Wind. Er war auf einen Punkt beschränkt, wehte plötzlich senkrecht aus dem Boden empor. Hans wich zurück und rannte zu seinem Wagen. Weniger als eine Minute war vergangen, seit er ausgestiegen war, um nachzusehen, was es mit dem Pontiac auf sich hatte, doch es kam ihm viel länger vor. Er öffnete die Tür, glitt auf seinen Sitz und löste die Handbremse. »Okay, fahren wir«, sagte er zu seiner Frau.
Keine Antwort. Es war nicht nötig, den Kopf zu drehen. Obwohl Hans geradeaus schaute, wusste er, was los war.
Seine Frau war nicht da.
»Claudia!«, rief, ja, schrie er beinahe, starr vor Schreck. Wo war sie? Selbst wenn sie ausgestiegen und davongerannt wäre, hätte sie nicht weit sein können. Hans schaute nach links und rechts, doch Claudia war nirgends zu sehen.
Etwas anderes lähmte ihn noch mehr als das Entsetzen darüber, dass sie verschwunden war – er spürte etwas hinter sich, irgendetwas Undefinierbares, das immer näher zu kommen schien. So etwas hatte er noch nie erlebt. Seine Nackenhaare sträubten sich. Er war sicher, dass Claudia sich nicht auf dem Rücksitz versteckt hatte, um ihm einen Schrecken einzujagen. Das hier war weit weniger harmlos. In der dunklen Stille spürte er einen leisen Lufthauch, wie die feuchte Wärme des Atems von jemandem auf dem Rücksitz. Der Lufthauch strich über die Mittelkonsole. Nicht aus den Lüftungsschlitzen, sondern von hinten. Langsame, rhythmische Atemzüge.
»Clau…« Das Wort blieb ihm im Hals stecken. Ihm war klar, dass er im Rückspiegel einen Blick in den Fond werfen konnte, doch dazu fehlte ihm der Mut. Natürlich wusste er, dass dort nichts war. Aber was um alles in der Welt ging hier vor? Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Die Tür öffnen und aus dem Wagen springen? Oder aufs Gaspedal treten und davonrasen?
Wie in einem Albtraum konnte er sich nicht vom Fleck bewegen. Das Atmen fiel ihm immer schwerer. Beim Versuch einzuatmen schnürte sich ihm die Kehle zu, und er musste so würgen und prusten, dass ihm die Tränen in die Augen stiegen. Binnen weniger Augenblicke war die Welt verrückt geworden, dabei wusste er nicht einmal, was eigentlich so seltsam war.
Draußen glühte der Soda Lake immer röter in dem Einschnitt zwischen den Bergen. Wie eine Reaktion auf die schimmernde Wasseroberfläche spürte Hans, wie sich von hinten eine Hand näherte, ihn am Ohrläppchen kitzelte, leise etwas raunte. Unbeschreiblich verführerisch. Hans wusste, was das Ding wollte. Es wollte, dass er sich umdrehte. Dass er sah, was sich auf dem Rücksitz befand.
Komm schon. Schau nach hinten. Schnell.
Hans sträubte sich verzweifelt dagegen, doch er wusste, dass es kein Entkommen gab. Binnen zehn Sekunden – nein, vermutlich weniger – würde er sich umdrehen und hinschauen müssen.
21.34 Uhr, 13. Dezember 2012
Gipfel des Mauna Kea, Hawaii
Selbst auf Hawaii, wo angeblich das ganze Jahr über Sommer ist, lag
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