Der Graben: Thriller (German Edition)
drängte. Es war schon nach halb sieben und die Sonne beinahe vollständig hinter dem westlichen Horizont verschwunden. Wenn sie erst einmal die Route 58 erreicht hatten, würden sie dort sicher ein Motel finden. Doch zuvor mussten sie am Soda Lake vorbei, und bis jetzt war von dieser berühmten Sehenswürdigkeit noch nichts zu erkennen. Hans hatte sich darauf gefreut, den See zu sehen, doch inzwischen war klar, dass er ihn nur im Dunkeln würde anschauen können.
Als er endlich einen Einschnitt zwischen den Bergen erspähte, der in der untergehenden Sonne rot schimmerte, wusste er, dass es der Soda Lake sein musste. Genau in diesem Moment bemerkte er einen Wagen, der ein Stück voraus auf der Gegenspur stand. Die schwache Innenbeleuchtung des roten viertürigen Pontiac war eingeschaltet, die Scheinwerfer nicht.
Da sie kurz vor dem Soda Lake waren, hatte es wenig Sinn, den Fahrer um Auskunft zu bitten. In der Zeit, die sie brauchten, um anzuhalten und ihn zu fragen, konnten sie ebenso gut weiterfahren und selbst nach einem Motel Ausschau halten. Doch bevor Hans wusste, was er tat, hielt er an. Es war eine Erleichterung, endlich ein anderes Fahrzeug zu sehen, aber irgendetwas an der Situation machte ihn stutzig.
Da stimmt was nicht.
Das Bedürfnis, rätselhaften Dingen auf den Grund zu gehen, war offenbar bei Männern stärker ausgeprägt als bei Frauen. Als der Wagen zum Stehen kam, schrie Claudia leise auf. »Was machst du denn, Hans?«
»Sie sind mitten auf der Straße stehen geblieben«, erklärte er, während er die Handbremse zog.
»Das sehe ich.«
»Ich will nur kurz mit ihnen sprechen.« Allem Anschein nach hatte der rote Pontiac aus einem bestimmten Grund angehalten.
»Und worüber?«
»Ob es da oben ein gutes Motel gibt. Und ob es noch Zimmer frei hat.«
»In der Zeit, die du brauchst, um zu fragen, könnten wir längst dort sein!«, protestierte Claudia, doch Hans konnte seine Neugier nicht bezähmen.
»Ich gehe nur mal kurz schauen. Du kannst hier warten.«
Er stieg aus und ließ Claudia auf dem Beifahrersitz zurück. Automatisch schaute er sich nach rechts und links um, doch natürlich war weit und breit kein Wagen in Sicht. Er überquerte die Straße und ging in Richtung Norden auf den Pontiac zu, der etwa zehn Meter weiter stand.
Wegen der eingeschalteten Innenbeleuchtung konnte Hans schon von Weitem in den Wagen hineinschauen. Es schien sich niemand darin zu befinden, weder vorn noch auf den Rücksitzen. Jetzt wurde Hans klar, was ihm merkwürdig vorgekommen war. In dem Auto saß niemand.
Wahrscheinlich ist der Fahrer ausgestiegen, weil er mal pinkeln musste, und ist direkt hinter dem Auto , vermutete Hans. Doch auch als er um den Wagen herumging, war von dem Fahrer keine Spur zu sehen.
Der Pontiac parkte auf dem Randstreifen der leicht abschüssigen Straße, genau dort, wo der Straßenbelag endete. Alle vier Reifen standen auf dem Sand. Eine der Türen auf der Fahrerseite war halb offen – das erklärte, warum die Innenbeleuchtung brannte.
Die rote Linie am Horizont, der die Begrenzung der Welt bedeutete, wurde durch nichts unterbrochen, nicht einmal durch Kakteen. Die einzige Pflanze in dieser dürren Landschaft war Gras.
Hans ging ein paar Schritte weiter und rief in Richtung Horizont: »Hallo?« Doch es kam keine Antwort außer einem Laut, der wie das weit entfernte Bellen eines Kojoten klang.
Als das Bellen verstummte und die Stille sich wieder über die Wüste senkte, hörte er plötzlich Gitarrenmusik hinter sich. Gitarrenmusik und den Gesang einer Frauenstimme… Die Klänge eines alten Countrysongs drangen durch die geöffnete Wagentür heraus. Das Radio lief. Mit rauer Stimme beklagte die Sängerin, dass sie ihren Freund betrogen habe, der im Krieg sei, und einen anderen heiraten werde. I hate to say it, but I have to tell you this tonight. It’s too late now. I’ll be wed to another.
Hans wandte sich der Frauenstimme zu. Er hatte den Eindruck, als wäre das Radio gerade erst angeschaltet worden und als hätte die Musik gerade erst begonnen. Doch das war unmöglich.
In dem Wagen ist niemand. Wahrscheinlich war ich so damit beschäftigt, nach dem Fahrer zu suchen, dass ich die Musik nicht bemerkt habe.
Das Autoradio musste die ganze Zeit an gewesen sein.
Als Hans durch die geöffnete Tür spähte, fiel ihm auf, dass der Schlüssel im Zündschloss steckte und der Wagen leicht vibrierte. Es saß niemand darin, und doch schien der Fahrer das Radio und den Motor angelassen
Weitere Kostenlose Bücher