Der Graben: Thriller (German Edition)
die Idee gekommen, zu fragen, warum ein Teil ihres Körpers nicht durch feste Materie drang.
»Wahrscheinlich hast du ungefähr an so was gedacht: Die Elektronen, die den Nukleus des Atoms umgeben, bilden eine Art Hülle. Eine Kugel, wenn du willst. Und diese Kugeln werden zu einem dreidimensionalen Gegenstand zusammengepackt. Sagen wir also, der Tisch besteht aus schwarzen Kugeln und dein Ellbogen aus weißen Kugeln. Beide Arten von Kugeln sind so dicht zusammengepackt, dass keine von beiden die andere durchdringen kann.«
Saeko nickte energisch. Sie hatte sich das nicht ganz so gedacht, aber so ähnlich. Es war eine ziemlich gute Beschreibung ihrer Vorstellung von Materie.
»Aber in Wirklichkeit ist alles ganz anders. Wenn wir ein Mikroskop hätten, mit dem wir ein Atom auf die Größe eines Baseballs vergrößern könnten, würdest du staunen, wie es aussieht. Es gäbe gar nicht viel zu sehen. Im Grunde besteht Materie aus einer ganzen Menge von nichts.«
»Nichts?«
»Aus leerem Raum.«
Saekos Vater öffnete die Dose mit dem Reisgewürz auf dem Tisch, holte ein einzelnes Sesamkörnchen heraus und hielt es auf dem Zeigefinger hoch, damit Saeko es sehen konnte.
»Sagen wir mal, der Nukleus unseres Atoms wäre so groß wie dieses Sesamkorn – etwa einen Millimeter im Durchmesser. Die Elektronen würden ihn im Abstand von fünfzig Metern umgeben, und sie wären so winzig, dass sie mit bloßem Auge nicht zu erkennen wären.«
Von dem Platz aus, an dem Saekos Vater saß, waren es locker zehn Meter bis zur Wand des Wohnzimmers. Doch die Hülle des Elektrons wäre viel weiter weg.
»Und sonst ist da nichts?«, fragte Saeko.
Ihr Vater nickte grinsend. »Ganz genau. Sonst nichts.«
Wenn das Sesamkorn auf dem Finger ihres Vaters der Atomkern war und die Elektronen ihn im Abstand von fünfzig Metern umgaben, bestand das Atom tatsächlich größtenteils aus leerem Raum.
Wenn die äußere Hülle des Atoms so groß wäre, dass eine ganze Wohnung hineinpasste, wäre in seiner Mitte ein Kern von der Größe eines Sesamkorns und sonst nichts!
Als sie diese konkrete Vorstellung verdaut hatte, bekam Saeko es plötzlich mit der Angst zu tun. Hier saß sie am Esstisch, aber wenn die Atome, aus denen ihr Stuhl bestand, überwiegend leerer Raum waren, was verhinderte dann, dass sie durch den Stuhl und den Fußboden und mitten durch die Erdkruste fiel?
Endlich verstand sie die Frage ihres Vaters, und prompt regten sich Zweifel tief in ihrem Inneren. »Warum also? Wenn Materie überwiegend nichts ist, warum fallen wir nicht? Warum dringen wir nicht durch die Dinge?«
»Wer weiß? Wenn sich alles um einen Millimeter verschieben würde, wären wir vielleicht in einem anderen Universum«, neckte sie ihr Vater. »Aber keine Sorge. Im Moment ist die Wahrscheinlichkeit, dass du durch den Tisch ins endlose Nichts fällst… gleich null. Nur, warum? Wenn Materie überwiegend leerer Raum ist, warum können Gegenstände einander dann nicht durchdringen? Ich möchte, dass du darüber mal nachdenkst und selbst auf die Antwort kommst. Warum rutscht eine Art Materie nicht einfach durch eine andere?«
Wenn Saeko bisher im Fernsehen oder im Kino Szenen gesehen hatte, in denen Leute durch Wände gingen, hatte sie immer gedacht, das wären Geister. Nun, da sie mehr von der Struktur der Materie begriff, betrachtete sie das Ganze aus einem anderen Blickwinkel und stellte andere Fragen. Es kam ihr einleuchtender vor, dass Leute in der Lage waren, durch Materie hindurchzugehen, und das eigentlich Seltsame war, dass sie es nicht taten.
Den Rest des Tages hatte Saeko damit verbracht, über die Frage nachzudenken, die ihr Vater ihr gestellt hatte. Keines der Bücher, die sie aufschlug, gab ihr eine Antwort; sie gingen nicht einmal so weit, die Frage zu stellen. Sie würde die Antwort allein herausfinden müssen.
Zuerst ging sie im Geiste noch einmal durch, was sie über den Aufbau von Atomen wusste. Im Vergleich zu Protonen und Neutronen waren Elektronen so winzig, dass sie nahezu bedeutungslos waren, und die Masse des Atoms wurde ausschließlich anhand der Protonen und Neuronen berechnet. Die Elektronen schwirrten wild und unvorhersehbar um den Nukleus herum. Wenn ihre Bahnen so umgrenzt wären wie eine Eierschale, die ein Ei umgibt, könnte man sie leichter beschreiben. Aber so funktionierte das Ganze nicht. Und dennoch drang kein Elektron jemals in das Gebiet eines anderen Elektrons ein.
Saekos erste spontane Idee war ein Kraftfeld. In
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