Der Graben: Thriller (German Edition)
um 16.15 Uhr ist der am Pariser Flughafen Charles de Gaulle gestartete United-Airlines-Flug Nummer 323 über dem Nordatlantik abgestürzt. Alle 515 Passagiere und Besatzungsmitglieder sind vermutlich ums Leben gekommen…«
Am gleichen Tag, begriff Saeko schockiert, an dem ihr Vater verschwunden war, hatte sich ein Flugzeugabsturz ereignet. Die Sorge um ihren Vater hatte sie so in Anspruch genommen, dass ihr das vollkommen entgangen war.
Vom Verschwinden ihres Vaters stand natürlich nichts in der Zeitung.
Saeko schlug den dicken Band auf ihrem Schoß zu und lehnte den Kopf an die Rückenlehne des Sofas, in der gleiche n Haltung, die sie zuvor eingenommen hatte, um die Tränen zu unterdrücken.
Obwohl die Erinnerungen an ihren Vater sie überwältigten, hatte sie die ganze Zeit ein bestimmtes Wort im Hinterkopf, als wäre es dort eingraviert. Trotz der heruntergelassenen Jalousien hatte die Nachmittagssonne Kraft, und es war in der Bibliothek viel wärmer als am Abend zuvor. Die Sonnenstrahlen, die durch die Lamellen hereinfielen, warfen schmale Streifen an die Wand, wie ein Spektogramm.
Sonne.
Das war das Wort, das ihr durch den Kopf spukte. Vielleicht hatte sie es in den gebundenen Zeitungen gelesen, bevor der Band zuschlug. Vielleicht kam es auch daher, dass sie den ganzen Morgen etwas über das Universum und das Sonnensystem gelesen hatte. Jedenfalls sah sie das Wort »Sonne« übergroß vor sich.
Sie schlug den Band auf der gleichen Seite wie zuvor wieder auf und überflog erneut von Anfang bis Ende die Lokalnachrichten des Tages nach dem Verschwinden ihres Vaters. Endlich entdeckte sie, was sie suchte. Direkt unter der Liste mit den Lottozahlen gab es eine Übersicht über die Höchst- und Tiefsttemperaturen des vergangenen Tages an verschiedenen Orten in Japan. Links daneben stand ein kleiner Artikel, nur etwa ein Viertel so groß wie ein normaler Artikel. Kein Wunder, dass sie ihn fast übersehen hätte.
Die Überschrift lautete »Maximum an Sonnenflecken in diesem Jahr«. Da. Irgendwie hatte ihr Unterbewusstsein sich das Wort »Sonne« auf dieser Seite herausgepickt.
Sie las den kurzen Artikel: »Gestern erschien auf der Oberfläche der Sonne plötzlich eine Gruppe von Sonnenflecken. Sie waren groß genug, um sie durch einen Filter mit bloßem Auge betrachten zu können – ein äußerst seltenes Phänomen. Durch den ungewöhnlichen Anstieg der Sonnenaktivität waren trotz der niedrigen Breitengrade in einigen Gebieten Nordjapans, darunter in Hokkaido, Polarlichter zu sehen.«
Saeko schaute von dem Artikel auf.
Am Tag, an dem mein Vater verschwunden ist, kam es zu ungewöhnlicher Sonnenaktivität…
Eine Häufung von Sonnenflecken, das Auftreten von Polarlichtern, der Erdmagnetismus – all diese Phänomene waren durch kausale Zusammenhänge verbunden. Dagegen schien es unmöglich zu sein, auch nur einen theoretischen Zusammenhang zwischen ungewöhnlicher Sonnenaktivität und einem plötzlichen, brutalen Ereignis wie dem Verschwinden eines Menschen festzustellen.
Saeko schloss den Band und kehrte an ihren Platz im Lesesaal zurück. Sie schlug ihr Notizbuch auf, doch so sehr sie sich auch zu konzentrieren versuchte, ständig sah sie im Geiste das Bild einer gleißend hellen Sonne vor sich. Wieder und wieder wurden ihre Gedanken durch die grotesken schwarzen Schatten unterbrochen, die über die Oberfläche dieser imaginären Sonne flackerten.
18
Die Nacht brach rasch herein. Es war noch hell gewesen, als Kitazawa in seinem Zimmer eingecheckt hatte, doch jetzt hatte die Hälfte der Autos auf der Präfekturstraße bereits die Scheinwerfer eingeschaltet. Durch die Lücken in dem Wellenbrecher konnte Kitazawa die zweifarbigen Lichter der Fischerboote sehen, die, auf dem Wasser auf- und abschaukelnd, in den Hafen Himekawa einliefen. Die Lichter verschiedener Küstenstädte an der Japanischen See flimmerten am Horizont. Es war schon merklich kühler geworden.
Kitazawa schlug das Revers seines Mantels hoch, zog die Schultern nach oben und schob beide Hände in die Taschen, während er auf dem Bürgersteig entlang der Präfekturstraße zum Hime-Fluss hinunterging. Als er am Schaufenster eines bereits geschlossenen Friseursalons vorbeikam, warf er einen Blick auf sein Spiegelbild in der Scheibe. Durch das Licht der Straßenlampen fungierte das Schaufenster als Spiegel und zeigte deutlich, dass Kitazawa sich dem Stil der knallharten amerikanischen Detektivromane angepasst hatte, die er in seiner Jugend
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