Der Graben: Thriller (German Edition)
schön leer, oder?«
Saeko fühlte sich ein wenig unbehaglich. Die Struktur der Welt schien erstaunlich dürftig zu sein, wenn sie bedachte, wie viel leerer Raum überall dazwischen war.
Ihr Vater versuchte stets, ihr zu zeigen, wie wichtig es war, die Mechanismen zu begreifen, nach denen ihre Welt funktionierte. Er erklärte, durch die Kenntnis jener Prinzipien würde sie mit Problemen besser fertig werden und in schwierigen Situationen bessere Entscheidungen treffen können.
Saeko dachte über diese Lektionen ihres Vaters nach, während sie über physikalischen Texten brütete und sich Notizen machte. Sie war so vertieft darin, dass sie gar nicht merkte, wie die Zeit verging oder dass sie Hunger hatte. Eine angenehme Erschöpfung erinnerte sie schließlich daran, dass ihr Gehirn Nahrung brauchte. Zeit für eine Pause. Sie ging nach unten, um eine Kleinigkeit zu essen.
Sie fuhr mit dem Lift ins Erdgeschoss und trank in der Cafeteria der Bibliothek eine Tasse Kaffee zu einem Sandwich. Als sie auf dem Weg zurück in den Lesesaal die Eingangshalle durchquerte, fielen ihr die Ständer für Zeitungen und Magazine auf, die mehr als die Hälfte des Platzes in den Regalen einnahmen. In geballter Form waren die Nachrichten jedes Monats dort an der Wand aufgereiht, in zwölf Teilen pro Jahr, ein Archiv vergangener Ereignisse. Saekos Blick wanderte ganz automatisch zu dem Band mit der Aufschrift August 1994. Sie sagte sich, dies wäre eine angenehme Abwechslung zu den Fachbüchern, die sie gewälzt hatte, nahm den Band heraus und setzte sich auf ein Sofa, um ihn durchzublättern.
Beinahe unbewusst schlugen ihre Finger den 22. August 1994 auf – den Tag, an dem ihr Vater verschwunden war. Die Lokalnachrichten hatten einen großen Artikel über die Festnahme eines Kidnappers gebracht, der ein fünfjähriges Mädchen entführt hatte. Saeko erinnerte sich gut an den Vorfall – der Ort, an dem das Lösegeld übergeben werden sollte, war nicht weit entfernt von ihrem Zuhause gewesen. Auch im Fernsehen war ausgiebig über den Fall berichtet worden, und Saeko fiel wieder ein, wie sie an jenem Tag mit halbem Ohr den Reportagen gelauscht hatte, während sie die Lunchbox verzehrte, die sie sich auf dem Heimweg von der Juku, der Paukschule, gekauft hatte. Den Lokalteil der Zeitung durchzublättern war perfekt, um ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, sich zu erinnern, was für ein Tag es gewesen war und was sich ereignet hatte. Außer der Entführung hatte es einen Skandal um eine Lebensmittelvergiftung in einem Luxushotel gegeben, und aus einer Provinzstadt wurde berichtet, dass die Bewohner Probleme mit einem Syndikat für organisiertes Verbrechen hatten. Als die Nachrichten zu Ende gewesen waren, hatte Saeko weiter ferngesehen. Es war einfach, im Fernsehprogramm den Titel der Sendung zu finden, die sie angeschaut hatte. Beim Anblick der Titel all der alten Sendungen aus jener Zeit wurde Saeko ganz nostalgisch. Der Sender, bei dem Hashiba arbeitete, hatte um acht Uhr eine Sendung namens »Musikparade« ausgestrahlt.
Saeko erinnerte sich, wie sie die Sendung aufgesaugt und sich Notizen gemacht hatte, um die Namen und Musiktitel der Popstars zu lernen. Als sie die Liste der Interpreten überflog, die an jenem Abend in der Show auftraten, fielen ihr deren Hits wieder ein. Sie erinnerte sich an die Melodien, doch nur an Bruchstücke der Texte.
Sie war so vertieft in die Sendung gewesen, dass sie die Zeit vergessen hatte. Acht Uhr war längst vorbei. Erst als die Sendung zu Ende war und die Uhr neun zeigte, merkte Saeko, dass etwas nicht stimmte. Das Telefon hatte nicht geklingelt.
»Hallo, Sae! Wie geht’s so?«
Bei der Vorstellung, wie die Stimme ihres Vaters am Telefon geklungen hatte, verspürte Saeko plötzlich eine große Sehnsucht und Hoffnungslosigkeit, und Tränen stiegen ihr in die Augen.
Sie hob den Blick von der Zeitung, um sich durch einen Wechsel ihrer Sitzposition aus ihren Gedanken zu reißen, und wartete darauf, dass die Welle der Traurigkeit verebbte. Da ihr Vater an jenem Abend um acht nicht angerufen hatte, musste ihm schon vorher etwas zugestoßen sein.
Saeko durchsuchte die übrigen Lokalnachrichten nach irgendetwas, das in Zusammenhang mit dem Verschwinden ihres Vaters stehen konnte, doch sie fand nichts Vielversprechendes. Sie griff zur Morgenzeitung des folgenden Tages, des 23. Augusts. Als Erstes sprang ihr der Bericht über einen Flugzeugabsturz über dem Nordatlantik ins Auge. »Am 22. August
Weitere Kostenlose Bücher