Der Graf von Monte Christo
bemerkte, daß es eine Nachschrift hatte. Julie las:
»Es ist wichtig, daß Sie diese Sendung in Person und allein erfüllen; kämen Sie in Begleitung, oder erschiene eine andere Person an Ihrer Stelle, so würde der Hausverwalter antworten, er wisse nicht, was man wolle.«
Diese Nachricht mäßigte Julies Freude bedeutend. Hatte sie nichts zu befürchten? War es nicht eine Falle, die man ihr stellte? Julie zögerte; sie beschloß, um Rat zu fragen, nahm aber seltsamerweise ihre Zuflucht weder zu ihrer Mutter noch zu ihrem Bruder, sondern zu Emanuel. Sie ging hinab, erzählte ihm, was ihr vor drei Monaten begegnet sei, und welches Versprechen sie dem Engländer gegeben habe, und zeigte den Brief.
Sie müssen den Gang machen, Fräulein, sagte Emanuel.
Ich muß ihn machen?
Ja, ich begleite Sie.
Haben Sie denn nicht gelesen, daß ich allein sein soll?
Sie werden auch allein sein; ich erwarte Sie an der Ecke der Rue du Musée, und wenn Sie so lange ausbleiben, daß es mir Unruhe bereitet, so suche ich Sie auf, und ich stehe Ihnen dafür, wehe denen, von denen Sie mir sagen werden, Sie haben sich über sie zu beklagen!Also, Emanuel, versetzte zögernd das junge Mädchen, es ist Ihre Ansicht, daß ich dieser Aufforderung Folge leisten soll?
Ja. Sagte Ihnen der Bote nicht, es handle sich um die Wohlfahrt Ihres Vaters?
Aber, Emanuel, welche Gefahr läuft er denn? fragte Julie.
Emanuel zögerte einen Augenblick, doch das Verlangen, sie mit einem einzigen Schlage und ohne Verzug zu bestimmen, gewann die Oberhand, und er sagte: Hören Sie! Nicht wahr, um elf Uhr soll Ihr Vater gegen 300 000 Franken bezahlen? Nun, er hat keine 15 000 in der Kasse. Wenn also Ihr Vater bis heute vor elf Uhr nicht jemand gefunden hat, der ihm zu Hilfe kommt, so ist er um Mittag genötigt, sich zahlungsunfähig zu erklären.
Ah! kommen Sie, rief Julie und zog den jungen Mann mit sich fort.
Mittlerweile hatte Frau Morel ihrem Sohne alles auseinandergesetzt. Der junge Mann wußte wohl, daß wiederholte Unglücksfälle dem Wohlstand des Hauses schwere Wunden geschlagen hatten, hatte aber keine Vorstellung von dem vollen Umfang der Gefahr. Er blieb wie vernichtet; dann eilte er plötzlich aus dem Zimmer und stieg rasch die Treppe hinauf, denn er glaubte, sein Vater sei in seinem Kabinett, aber er klopfte vergebens. Als er vor der Tür des Kabinetts stand, hörte er die untere Wohnung sich öffnen; er wandte sich um und sah seinen Vater. Dieser stieß einen Schrei der Überraschung aus, als er Maximilian erblickte: er blieb unbeweglich auf der Stelle und preßte mit dem linken Arme einen Gegenstand, den er unter seinem Oberrock verborgen hielt. Maximilian stieg rasch die Treppe hinab und warf sich seinem Vater um den Hals; aber plötzlich wich er zurück und ließ nur seine linke Hand auf Morels Brust ruhen.
Vater, sagte er, bleich wie der Tod, warum haben Sie ein paar Pistolen unter Ihrem Oberrock?
Oh! das befürchtete ich, versetzte Morel. Vater! Vater! Im Namen des Himmels, rief der junge Mann, wozu diese Waffen?
Maximilian, antwortete Morel, seinen Sohn starr anschauend, du bist ein Mann, du bist ein Ehrenmann; komm, und ich werde es dir sagen!
Und mit sicherem Schritte stieg Morel in sein Kabinett hinauf, während ihm sein Sohn wankend folgte. Morel öffnete die Tür und schloß sie wieder hinter seinem Sohne; dann durchschritt er das Vorzimmer, näherte sich dem Büro, legte seine Pistolen auf die Ecke des Tisches und bezeichnete Maximilian mit der Fingerspitze ein offenes Buch. In diesem Buche war der Stand der Dinge genau eingetragen. Morel hatte in einer halben Stunde 287 500 Franken zu bezahlen und besaß im ganzen nur 15 227 Franken. Der junge Mann las und war einen Augenblick völlig niedergeschmettert. Morel sprach kein Wort; was hätte er zu dem unerbittlichen Urteile der Zahlen noch hinzufügen können?
Und Sie haben alles getan, um diesem Unglück zu begegnen, mein Vater? fragte der junge Mann. – Ja.
Sie haben alle Ihre Quellen erschöpft? – Alle.
Und in einer halben Stunde ist unser Name entehrt? fügte der Sohn mit düsterem Tone hinzu.
Blut wäscht die Schande ab, sprach Morel.
Sie haben recht, Vater, ich verstehe Sie. Dann seine Hand nach den Pistolen ausstreckend, fuhr Maximilian fort: Eine für Sie, eine für mich.
Morel hielt seine Hand zurück.
Und deine Mutter ... deine Schwester ... wer wird sie ernähren?
Ein Schauder durchlief den Leib des jungen Mannes.
Vater, sagte er, bedenken Sie, daß Sie
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