Der Graf von Monte Christo
die Frauen zu trösten; aber es mangelte ihm an Beredsamkeit. Der junge Mann war zu sehr in die Angelegenheiten des Hauses eingeweiht, um nicht zu fühlen, daß eine große Katastrophe bevorstand. Es kam die Nacht; die Frauen wachten, in der Hoffnung, Morel würde, von seinem Kabinett herabkommend, bei ihnen eintreten, doch sie hörten, wie er, ohne Zweifel aus Furcht, man könnte ihn rufen, mit leisen Tritten an ihrer Tür vorüberschlich. Sie horchten; er kehrte in sein Zimmer zurück und schloß die Tür von innen.
Frau Morel hieß ihre Tochter schlafen gehen; eine halbe Stunde nach dem sich Julie entfernt hatte, stand sie auf, zog ihre Schuhe aus und schlüpfte in den Gang, um zu sehen, was ihr Gatte machte. Im Gang erblickte sie einen Schatten, der sich zurückzog. Sie erkannte Julie, die, selbst unruhig, ihrer Mutter zuvorgekommen war. Julie ging auf ihre Mutter zu und sagte: Er schreibt.
Frau Morel neigte sich zum Schlüsselloch herab. Morel schrieb wirklich; aber was ihre Tochter nicht bemerkt hatte, das bemerkte Frau Morel; ihr Gatte schrieb auf gestempeltes Papier. Es kam ihr der furchtbare Gedanke, er mache sein Testament; sie bebte an allen Gliedern und hatte dennoch die Kraft, nichts zu sagen.
Am andern Tage erschien Herr Morel ganz ruhig, er hielt sich wie gewöhnlich in seinem Büro auf, kam wie gewöhnlich zum Frühstück herab; nur ließ er nach dem Mittagsessen seine Tochter neben sich sitzen, nahm den Kopf des Kindes in seinen Arm und hielt ihn lange an seine Brust. Am Abend sagte Julie zu ihrer Mutter, sie habe, obgleich ihr Vater scheinbar ruhig gewesen, doch sein Herz heftig schlagen gefühlt. Die zwei nächsten Tage gingen ungefähr auf dieselbe Weise hin.
Die ganze Nacht vom 4. auf den 5. horchte Frau Morel, ihr Ohr fester an das Täfelwerk haltend; bis 3 Uhr morgens hörte sie ihren Gatten in großer Aufregung im Zimmer umhergehen; erst nach drei Uhr warf er sich auf sein Bett. Die Frauen brachten die Nacht beisammen zu. Seit dem vorhergehenden Abend erwarteten sie Maximilian. Um acht Uhr trat Herr Morel in ihr Zimmer; er war ruhig, aber die Aufregung der Nacht zeigte sich auf seinem bleichen, verstörten Gesichte. Die Frauen wagten es nicht, ihn zu fragen, ob er gut geschlafen habe. Morel war freundlicher gegen seine Frau und väterlicher gegen seine Tochter, als er es je gewesen; er konnte nicht satt werden, das arme Kind anzuschauen und zu küssen.
Julie wollte ihrem Vater folgen, als er sich entfernte; er stieß sie jedoch sanft zurück und sagte: »Bleib bei deiner Mutter.
Julie drang in ihn, doch er sprach: Ich will es.
Sie blieb stumm und unbeweglich auf ihrem Platze stehen.
Eine Minute nachher öffnete sich die Tür, und sie fühlte zwei Arme, die sie umschlangen, und einen Mund, der sich auf ihre Stirn preßte. Sie schlug die Augen auf und stieß einen Freudenschrei aus.
Maximilian! Mein Bruder! rief sie.
Bei diesem Rufe lief Frau Morel herbei und warf sich in die Arme ihres Sohnes.
Mutter! sprach der junge Mann und schaute dabei abwechselnd Frau Morel und ihre Tochter an, was gibt es denn? Was geht denn vor? Euer Brief hat mich erschreckt, und ich eile herbei!
Julie, sagte Frau Morel, ihrem Sohne ein Zeichen machend, benachrichtige deinen Vater, daß Maximilian angekommen ist.
Julie eilte hinaus, aber auf der ersten Stufe der Treppe begegnete sie einem Manne, der einen Brief in der Hand hielt.
Sind Sie nicht Fräulein Julie Morel? fragte dieser Mann mit stark italienischer Betonung.
Ja, Herr, stammelte Julie; doch was wollen Sie? Ich kenne Sie nicht.
Lesen Sie diesen Brief, antwortete der Mann und reichte ihr das Billett. Julie zögerte.
Es handelt sich um die Wohlfahrt Ihres Vaters.
Das Mädchen entriß das Billett seinen Händen, öffnete es rasch und las:
»Begeben Sie sich sogleich in die Allées de Meillan; treten Sie in das Haus Nr. 15; verlangen Sie von dem Hausverwalter den Schüssel des Zimmers im fünften Stocke; gehen Sie in dieses Zimmer; nehmen Sie von der Ecke des Kamins eine rote seidene Börse, und bringen Sie diese Börse Ihrem Vater. Es ist von großem Belang, daß er sie vor elf Uhr erhält. Sie haben mir blinden Gehorsam versprochen; ich erinnere Sie an dieses Versprechen.
Simbad der Seefahrer.«
Julie stieß einen Freudenschrei aus, schlug die Augen auf und suchte den Mann, der ihr das Billett zugestellt hatte, um ihn zu befragen, aber er war verschwunden. Sie schaute dann wieder auf das Billett, um es zum zweiten Male zu lesen, und
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