Der Graf von Monte Christo
einem Barbier ein, um sich den Bart und die Haare schneiden zu lassen. Der Barbier schaute erstaunt den Mann mit den langen Haaren, dem dichten schwarzen Barte und dem schönen Tiziankopfe an und ging an die Arbeit. Als er fertig war, ließ sich Dantes einen Spiegel geben und beschaute sich. Als er vor vierzehn Jahren das Kastell If betreten hatte, besaß er das runde, lachende, blühende Gesicht des glücklichen Jünglings, dem die ersten Schritte im Leben leicht gewesen sind, und der auf die Zukunft vertraut. Das hatte sich völlig geändert. Sein ovales Gesicht war länglich geworden, sein lachender Mund hatte die festen Formen angenommen, die Entschlossenheit andeuten, seine Brauen waren unter einer einzigen nachdenklichen Falte gebogen, seine Augen umschwebte der Ausdruck tiefer Traurigkeit, aus dem zuweilen düstere, von Menschenscheu und Haß zeugende Blitze hervorbrachen. Seine des Lichtes und der Sonnenstrahlen so lange entbehrende Gesichtshaut hatte die matte Farbe angenommen, die bei den Aristokraten des Nordens für schön gilt. Das tiefe Wissen, das er erlangt, hatte dabei über sein ganzes Antlitz den Wiederschein geistiger Hoheit verbreitet. Edmond lächelte, als er sich sah; sein bester Freund, wenn ihm noch ein Freund übrig blieb, konnte ihn unmöglich erkennen; er erkannte sich selbst nicht mehr.
Als er den Barbier verließ, kaufte er sich einen vollständigen Matrosenanzug und erschien in diesem Gewande an Bord der Amalie . Der Patron wollte in dem stattlichen Matrosen den Mann mit dem dichten Barte und Haaren voll Seegras nicht wiedererkennen, den er nackt und sterbend auf dem Verdeck seines Schiffes aufgenommen hatte. Seine schöne Erscheinung und der Gedanke an die guten Dienste, die er ihm leisten konnte, bewogen ihn jedoch, Dantes vorteilhafte Anerbietungen mit Anteil am Gewinn zu machen, wenn er dauernd bei ihm bleiben wolle; aber Dantes hatte seine eigenen Pläne und verpflichtete sich nur auf drei Monate.Übrigens entwickelte die Mannschaft der Amalie eine emsige und fruchtbare Tätigkeit. Kaum war sie acht Tage in Livorno, als die bauchigen Räume des Schiffes von Musselinen, von verbotenen Baumwollenwaren und Tabak voll waren, auf welche die Zollbehörde ihren Stempel zu setzen vergessen hatte. Es handelte sich darum, diese Waren ungefährdet fortzubringen und auf Korsika auszuschiffen, wo andere es übernahmen, die Ladung nach Frankreich zu schaffen. Das Schiff stach in See, und Edmond durchschnitt abermals das azurblaue Meer, das schon der Traum und der Horizont seiner Jugendzeit gewesen war. Als der Patron am andern Morgen auf das Verdeck stieg, was er immer frühzeitig tat, fand er Dantes, der an die Schiffswand gelehnt mit seltsamem Ausdruck einen Haufen von Granitfelsen betrachtete, welche die ausgehende Sonne mit rosigem Lichte übergoß: es war die Insel Monte Christo. Die Amalie ließ sie auf ungefähr drei Viertelstunden von ihrem Steuerbord und setzte ihren Weg nach Korsika fort.
Als Dantes an dieser Insel mit dem für ihn so bedeutungsvoll klingenden Namen hinfuhr, dachte er, er brauche nur in das Meer zu springen, und in einer halben Stunde sei er auf dem gelobten Lande. Aber was sollte er dort tun, ohne Werkzeuge, um seinen Schatz zu entdecken, ohne Waffen, um ihn zu verteidigen? Was würden überdies die Matrosen sagen, was würde der Patron denken? Er mußte warten. Glücklicherweise verstand Dantes zu warten; er hatte vierzehn Jahre auf seine Freiheit gewartet und konnte nun, da er frei war, auch sechs Monate oder ein Jahr auf seinen Reichtum warten. Hätte er nicht auch mit Entzücken die Freiheit ohne Reichtum angenommen, wenn man sie ihm geboten hätte? War dieser Reichtum überhaupt etwas Wirkliches? War er nicht, im kranken Gehirn des Abbés Faria geboren, mit diesem gestorben? Allerdings, der Bries des Kardinals Spada war seltsam genug. Und Dantes wiederholte in seinem Gedächtnis den Brief, von dem er kein Wort vergessen hatte.Am andern Morgen erwachte man auf der Höhe von Aleria. Man lavierte den ganzen Tag; am Abend entzündeten sich Feuer auf der Küste, man näherte sich dem Ufer auf Schußweite und schiffte ohne weitere Fährlichkeiten die Ladung aus. Doch die Expedition war noch nicht zu Ende; man legte sich gegen Sardinien. Es handelte sich darum, das Schiff, das man gelöscht hatte, wieder zu laden. Die zweite Operation verlief so günstig wie die erste. Die für das Großherzogtum Lucca bestimmte Ladung bestand fast ausschließlich aus Xeres- und
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