Der Grenzgänger
Hauptwohnsitz habe wohl steuerliche und versicherungstechnische Gründe, etwa wegen des Autos, vermutete die Lektorin. „Außerdem hört sich Aachen wesentlich besser an als Geilenkirchen oder Würm-Beeck.“
Über diese kühne Behauptung wollte ich nicht streiten; so viel attraktiver als das Beamtendorf an der Wurm war die Kaiserstadt am Eifelrand auch nicht. „Welcher Teufel hat Sie geritten, sich bei der Polizei als Mörderin zu melden?“, fragte ich vielmehr.
Renate Leder sah mich keck an. „Das war doch der beste Weg, um Sie zu bekommen. Oder?“ Nachdem ich ihr am Vorabend eine Absage erteilt hatte, war sie auf diese Idee verfallen, als sie im Radio die schreckliche Nachricht gehört hatte. „Die Polizei hat mich jedenfalls sofort festgehalten, ohne lange zu fragen.“
Ich winkte abfällig ab. Wenn ich mich in diese Geschichte hineinknien würde, dann bestimmt nicht wegen Frau Doktor Leder, sagte ich mir. Wenn ich einen Teil meiner Freizeit dafür opferte, dann tat ich es ausschließlich wegen Böhnke, der mich aus welchen Gründen auch immer an seinem Spiel beteiligen wollte. Aber das brauchte ich der Lektorin nicht auf die Nase zu binden. Nach einem Blick auf eine preiswerte Wanduhr von Ikea, die bereits späten Nachmittag anzeigte, erhob ich mich schnell und griff nach den Büchern. Ich hätte noch in der Kanzlei zu tun, erklärte ich meinen abrupten Aufbruch.
Die Lektorin ließ mich bereitwillig gehen. Sie habe sich ohnehin noch zum Tennisspielen mit Freundinnen verabredet, sagte sie. Dann stockte sie und ging zurück in das Zimmer. Vor dem Schreibtisch blieb sie suchend stehen. Sie schien zu überlegen, während sie über die Regale blickte. „Was ist?“, fragte ich.
Renate Leder drehte sich zu mir und schüttelte entschuldigend den Kopf. „Ach, nichts.“ Sie ging wieder in den Flur. „Schön, dass Sie für mich tätig werden, Herr Grundler“, ergänzte sie und schob mir ein Kärtchen in die Tasche meiner Lederjacke. „Ich freue mich auf Ihren Anruf.“
Ich war froh, als ich auf der Straße stand. Frau Doktor Leder strengte mich an, sie zog an verschiedenen Strippen und ließ mich für sie laufen. Was steckte bloß dahinter? Ich dachte an unser Telefonat vom gestrigen Tag. Etwas war mir dabei aufgefallen. Aber es fiel mir nicht ein, was es gewesen war.
Ich schüttelte den Gedanken ab, während ich mich zu Fuß auf den Weg zur Theaterstraße machte. Ich musste noch zwei Telefonate erledigen, bevor ich Feierabend machen konnte, und war froh, in der Kanzlei niemanden mehr anzutreffen.
Sabine hatte mir auf meinem Schreibtisch die Notiz hinterlassen, dass sie in meiner Wohnung sehnsüchtig mit dem Essen auf mich wartete.
Schnell tippte ich die Nummer des Kommissars ins Telefon, musste mir aber im Polizeipräsidium sagen lassen, Böhnke habe bereits Feierabend gemacht. Automatisch wählte ich seine Privatnummer und brauchte nicht lange zu warten, bis abgehoben wurde.
„Ich habe mir gedacht, dass Sie mich anrufen werden“, sagte Böhnke statt einer Begrüßung, „und ich sage Ihnen auch den Grund, weshalb ich Sie um Mithilfe gebeten habe, bevor Sie mich danach fragen.“ Der Kommissar ließ mich nicht zu Wort kommen. „Frau Doktor Leder ist eine entfernte Verwandte meiner Lebensgefährtin“, bekannte er, „da weiß ich nicht, ob ich unvoreingenommen zu Werke gehen kann. Zum anderen möchte ich den Fall nicht an einen Kollegen abgeben, sondern selbst behandeln und Sie dabei als meine Kontrollinstanz zur Seite haben.“ Böhnke legte eine Atempause ein, fuhr aber in seinem Monolog fort, ehe ich etwas einwenden konnte. „Und zum Dritten will ich herausfinden, was bei den Geschichten von Fleischmann Wirklichkeit ist und was Fantasie.“ Bevor ich mein Erstaunen über diese heute schon einmal gehörte Bemerkung äußern konnte, fragte mich der Kommissar: „Haben Sie schon einmal einen Krimi von Fleischmann gelesen?“
„Nein.“ Ich war erleichtert, am Gespräch beteiligt zu werden. Doch blieb mein Anteil auf dieses eine Wort beschränkt. „Dann sollten Sie es schleunigst tun. Vielleicht findet sich der Schlüssel zum Ableben Fleischmanns in dessen Büchern. Es würde mich nicht wundern.“ Böhnke stockte kurz, dann redete er hastig weiter. „Ich muss Schluss machen. Meine Freundin steht vor der Tür. Wir wollen für ein paar Tage nach Huppenbroich zum Ausspannen. Tschö, wa.“ Schon hatte er aufgelegt.
Noch ein letztes Telefonat für heute, schwor ich mir
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