Der Grenzgänger
Fahrbahn. Mit den Reifen auf der Beifahrerseite prallte Leders Fahrzeug auf die Bordsteinkante und wurde in die Luft katapultiert. „Dann flog es in einem hohen Bogen über einen Zaun auf das Gelände eines Stahlgroßhandels, setzte auf, schoss auf einen Baucontainer zu und wurde nach dem Frontalaufprall von dort mit der Fahrerseite in einen Stapel von Eisenträgern geschoben. Die Träger haben sich in den Wagen hineingebohrt“, berichtete der Polizist. „Es ist schon ein Wunder, dass die Frau den Unfall überhaupt überlebt hat.“
Die Schilderung des Unfallhergangs schien mir wenig realistisch. „So etwas kann es doch gar nicht geben, so etwas sehen wir doch nur im Fernsehen“, bemerkte ich zweifelnd.
Der Polizist lachte verbittert. „Sie würden sich wundern, wenn Sie mitbekämen, was alles in der Realität passiert. Die Wirklichkeit ist oft unglaubwürdiger als die Fantasie. Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die können Sie sich einfach nicht vorstellen, Herr Grundler.“
Bevor wir uns in eine philosophische Abhandlung über das Sein verzettelten, kam ich zum wahren Leben zurück. „Was ist mit dem Unfallverursacher?“
„Unfallflucht. Der ist verschwunden“, antwortete der Polizist lakonisch. „Die Zeugin hat nur mitbekommen, dass es sich um einen dunklen Geländewagen handelt. Sie hat weder Kennzeichen noch Insassen des Fahrzeuges erkannt.“ Er seufzte kurz. „Da können wir wahrscheinlich suchen bis zum Weltuntergang und werden ihn dennoch nicht finden.“
„Hm“, ich rieb mir nachdenklich das Kinn. „Eine Strafanzeige gegen unbekannt wegen Unfallflucht und dem ganzen rechtlichen Rattenschwanz haben Sie bestimmt schon geschrieben?“, fragte ich und der Polizist bestätigte mich. „Was allerdings wenig Aussicht auf Erfolg haben wird“, fuhr ich ohne Zuversicht fort. „Was glauben Sie, war es tatsächlich ein Unfall oder stand Absicht hinter dem Zusammenstoß?“
Der Polizist wollte mich nicht auf Anhieb verstehen. „War es Zufall, dass der Fahrer des Geländewagens Frau Doktor Leder erwischte oder hat er ihr aufgelauert, um sie abzuschießen?“ Dann wäre diese Tat nämlich nach meiner Auffassung als Mordversuch einzustufen.
„Da muss ich passen“, antwortete der Polizist. „Es sieht für uns zumindest so aus, als handele es sich um einen Unfall, um ein zufälliges, nicht voraussehbares, plötzliches Geschehen. Auch die Aussage der Zeugin lässt nicht darauf schließen, dass jemand die Frau bewusst abgepasst hat.“
Mit dieser Antwort musste ich mich notgedrungen zufrieden geben. Auch ich wollte zunächst einmal von einem Unfall ausgehen. Ein Mordversuch war vielleicht auch etwas zu weit hergeholt.
Andererseits: Die Lektorin hatte Fleischmann gesucht, er musste sterben und wenig später ging es ihr an den Kragen. War das nur Zufall?
„Wird wohl so sein“, vermutete Dieter, mit dem ich die Situation wenig später bei einer Tasse Kaffee besprach. Er reichte mir die AZ über den Schreibtisch. „Du stehst übrigens heute ganz groß im Blättchen“, sagte er und zeigte auf einen Artikel im Lokalteil.
Sümmerling hatte in seinem umfangreichen Bericht über die Ermordung von Renatus Fleischmann tatsächlich mich als Quelle angegeben, aus der er sein Wissen schöpfte, dass der Autor aufgrund des Personalausweises identifiziert worden war.
Diese Passage des Artikels interessierte mich weniger als das, was er weggelassen hatte. Mit keinem Wort ging der Zeitungsmann auf den angeblichen Fingerabdruck ein. Es schien sich dabei tatsächlich um eine Ente gehandelt zu haben.
Dennoch nahm ich den Artikel zum Anlass, den Journalisten in der Redaktion anzurufen. Er sei ja der letzte Hinterwäldler, lästerte ich. „Da passiert in der Nacht am Prager Ring der spektakulärste Unfall aller Zeiten mit einer gekonnten Kunstflugakrobatik und ich lese heute keine einzige Zeile darüber.“ Bevor er protestieren konnte, setzte ich nach. „Habt ihr wenigstens Bilder vom Unfall?“
„Haben wir nicht“, bedauerte Sümmerling verlegen, „das Einzige, das wir haben, ist ein Fax der Polizei von heute Morgen, in dem uns der Unfall geschildert wurde.“
Meiner Bitte, mir dieses Fax zuzufaxen, kam der Journalist gerne nach. Verständlicherweise, und damit hatte ich gerechnet, fragte Sümmerling: „Warum wollen Sie es haben?“
„Weil es sich bei dem Unfallopfer um eine Mandantin handelt. Sie kennen sie auch.“ Ich machte eine kleine Pause. „Es handelt sich um Frau Doktor Renate
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