Der Grenzgänger
sie schwärmerisch fort, „er hat in seinen Romanen einen vollkommen neuen Schreibstil entwickelt. Seine Kriminalgeschichten sind so realistisch geschrieben, dass viele Leser nicht mehr wissen, was wirklich geschehen ist oder was von ihm erfunden wurde.“
„Und was bringt es ihm?“, fragte ich energisch dazwischen, um erst gar keinen Monolog aufkommen zu lassen. „Es wird ihm langfristig Erfolg bringen“, behauptete Frau Doktor Leder überzeugt. Sie ließ sich von meiner Unterbrechung keineswegs beirren.
„Schön für ihn. Aber was habe ich damit zu tun?“ Das Gespräch begann, mich zu langweilen. „Hat er Ihnen etwa ein defektes Auto verkauft?“
Endlich ließ sie die Katze aus dem Sack und kam zu ihrem unerfreulichen Ansinnen. „Sie sollen Renatus Fleischmann suchen. Er ist verschwunden.“
Ich schüttelte ablehnend den Kopf und schaute aus dem Fenster. „Dafür ist die Polizei zuständig“, meinte ich gelangweilt. „Ich bin in einer Aachener Anwaltskanzlei beschäftigt und kann allenfalls für Sie eine Vermisstenanzeige aufsetzen. Oder Sie beauftragen einen Privatdetektiv, nach Ihrem Freund Renatus Fleischmann zu suchen“, schlug ich übertrieben freundlich vor. Bei mir sei sie jedenfalls an der falschen Adresse, versuchte ich ihr zu erklären. Ich gab mir keine Mühe, mein Gähnen zu unterdrücken.
„Ich will aber, dass Sie nach ihm suchen“, beharrte sie trotzig wie ein Kleinkind. „Sie haben Maria gefunden. Wenn jemand Renatus Fleischmann finden kann, dann sind Sie es und sonst niemand, Herr Grundler.“
Aber auch diese schmeichelnde Streicheleinheit konnte meinen Widerstand keineswegs aufweichen. „Schalten Sie die Polizei ein oder einen Detektiv“, wiederholte ich mich immer noch freundlich, um dann urplötzlich streng zu fragen: „Warum wollen Sie diesen Renatus Fleischmann überhaupt suchen?“
„Weil er…“, die Frau zögerte für einen Augenblick, als sei ihr die Antwort peinlich. „Weil ich seine Lektorin bin“, sagte sie dann endlich gefasst.
,Fleischmann wird wohl mit einer anderen Lektorin durchgebrannt sein’, folgerte ich für mich, ,und sie sieht eine lukrative Erwerbsquelle schwinden.’ Damit gab die Frau zumindest ein finanzielles Interesse an dem vermeintlichen und zukünftigen Bestsellerautor zu, dachte ich mir. Dennoch war mir dieser wirtschaftliche Anlass immer noch zu dürftig, um in irgendeiner Form für irgendjemanden tätig zu werden. Vorsorglich blieb ich stumm.
„Sie wollen mir wohl nicht helfen?“, fragte Frau Doktor Leder vorsichtig. Vielleicht schwang sogar ein bisschen Angst in ihrer Stimme mit.
In der Tat, ich wollte ihr nicht helfen. „Ich kann Ihnen nicht helfen“, sagte ich seufzend. „Wenden Sie sich bitte mit einer Vermisstenanzeige an die Polizei.“
Grußlos legte die Lektorin daraufhin auf, was mich allerdings nicht beeindrucken konnte. Ich hatte in dieser Kanzlei schon genug mitgemacht, um über eine derartige, harmlose Unhöflichkeit länger nachzudenken.
„Na? Was wollte Frau Doktor Leder von dir?“, fragte mich Sabine, die freudestrahlend in mein Zimmer getreten war, während ich mir eine Gesprächsnotiz machte. Sehr wahrscheinlich blieb dieser Notizzettel eine unbeachtete Ablage in meinem Zettelkasten; aber ich konnte nie wissen, was noch alles passierte auf der großen, weiten Welt. Schon mehr als einmal hatte ich mit Hilfe meiner Zettelwirtschaft in vertrackten Kriminalfällen die richtige Lösung herausgefunden.
Meine Liebste setzte sich auf meinen Schoß und gab mir einen flüchtigen Kuss.
Ich sah sie lächelnd an und legte meine Arme um sie. „Ausgerechnet ich soll einen gewissen Renatus Fleischmann für sie suchen. Aber ich habe abgelehnt.“
Sabine gab sich mit der Antwort zufrieden. Sie drückte sich enger an mich. „Dafür hättest du auch gar keine Zeit, wir sollen heute Abend zu Dieter und Do kommen.“
Es gab nur wenige Dinge, die ich lieber tat. Dieter, mein bester Freund und als Chef der Anwaltskanzlei immer noch auch mein Chef, und Do, seine Gattin, meine Freundin und Sabines Zwillingsschwester, waren mit Sabine und mir eine große Familie, zu der auch noch sein Sohn Tobias junior gehörte; und was kann es Schöneres geben als ein harmonisches Familienfest?
Der Radiowecker holte mich am nächsten Morgen aus dem Schlaf. Die ersten Lokalnachrichten aus dem Aachener WDR-Studio um sechs Uhr dreißig waren für mich an einem normalen Wochentag keinesfalls Grund genug, konzentriert zu
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