Die Lieferung - Roman
AUGUST
Das Haus lag am Hang mit Aussicht auf die Jammerlandbucht. Jan wusste nur zu gut, wie es von den Ortsansässigen genannt wurde: das Fort. Aber das war nicht der Grund, warum er immer diesen Anflug von Unzufriedenheit spürte, wenn er zu den weißen Mauern emporblickte. Die Leute konnten denken oder sagen, was sie wollten, sie waren ihm egal.
Das Haus war von einem Architekten entworfen worden, modern und klassisch-funktional zugleich. »Neo-funktional« hatte Anne den Stil genannt und ihm Bilder und Häuser gezeigt, bis er es verstanden hatte, jedenfalls ansatzweise. Gerade Linien, wenig Ornamente. Die Aussicht sollte für sich sprechen, durch die großen Fenster, die die Natur in den Raum hereinholten. Das waren damals die Worte des Architekten gewesen, und Jan musste zugeben, dass es genau so war. So gesehen hatte er bekommen, was er wollte. Alles neu, alles sauber und richtig.
Er hatte das Grundstück gekauft, das alte Sommerhäuschen, das darauf gestanden hatte, abgerissen und so lange mit der Verwaltung gekämpft, bis er die Leute überzeugt hatte, dass sie ihn gern in die Gemeinde aufnehmen wollten, und sie ihm die Genehmigung für ein festes, ganzjährig bewohntes Haus erteilten. Den Widerstand der lokalen Umweltschutzaktivistin hatte er mit einem Betrag gebrochen, bei dem sie sich beinahe an ihrem Kräutertee verschluckt hätte. Warum kein Vogelreservat? Er hatte wirklich kein Interesse daran,
dass irgendwer außer ihm eine Baugenehmigung bekam oder Scharen von Ausflüglern auf ihren Fahrrädern herumkurvten und Wasser aus Plastikflaschen tranken.
Jetzt stand das Haus da, umgeben von weißen Mauern, mit großen Fenstern und klaren neofunktionalen Linien. Genau, wie er es gewollt hatte.
Und trotzdem war es nicht so, wie es hätte sein sollen. Noch immer dachte er mit einer seltsam vagen Sehnsucht an das andere Haus. Den großen, alten, ziemlich hässlichen Kasten, diese Kreuzung eines Gulaschbaron-Palastes und eines 60er-Jahre-Blocks, der dank seiner Lage am Strandvej unglaublich teuer gewesen war. Aber nicht deshalb hatte er diesen Kasten haben wollen, die Adresse war ihm egal gewesen. Aber das Haus lag gleich neben Annes Elternhaus, und das rief bei ihm immer den gleichen Traum hervor: die große Familie bei gemeinsamen Grillabenden unter den Apfelbäumen. Kleine Kinder, die über die Wiese tollten. Annes Vater und er mit einem guten Whisky in der Hand, eingehüllt vom Duft des feinen Virginia-Tabaks. Annes Geschwister mit ihren Kindern an einem langen weißen Gartentisch. Ihre Mutter in der Hollywood-Schaukel auf der Terrasse, um den Hals einen schicken indischen Schal. Seine eigenen Kinder, vier oder fünf hätte er sich gewünscht, das jüngste lächelnd auf dem Schoß seiner Mutter. Ein Mittsommerfest vielleicht, mit eigenem Feuer und so vielen Gästen, dass die Lieder, die sie sangen, voll und richtig klangen. Oder einfach nur ein ganz gewöhnlicher Donnerstag, weil ihnen eben danach war und es im Hafen frische Krabben gegeben hatte.
Er nahm einen kräftigen Zug von seiner Zigarette und blickte über die Bucht. Das Wasser schimmerte jetzt dunkelblau, einzelne Schaumstreifen zogen sich übers Meer, und der Wind zerrte an seinen Haaren und trieb ihm Tränen in die Augen. Es war ihm sogar gelungen, den Besitzer zu überreden, ihm das
Haus zu verkaufen. Alles war bereit gewesen, nur die Unterschrift hatte noch gefehlt, als sie plötzlich Nein sagte.
Er verstand es bis heute nicht. Verdammt, es war doch ihre Familie. Darin sollten Frauen doch aufgehen und ihre Erfüllung finden, oder nicht? Der enge Kontakt, das Netzwerk, all das … Und Annes Familie war so einzigartig, so … richtig. Liebevoll. Stark. Keld und Inger, die sich ganz offensichtlich auch noch nach 40 Jahren Ehe liebten. Annes Brüder, die regelmäßig ins Haus kamen, manchmal mit Frau und Kindern, manchmal ohne, wenn sie nach dem Tennis nur kurz vorbeischauten. Ein Teil dieses Ganzen zu werden und direkt nebenan auf der anderen Seite der Hecke zu wohnen … wie hatte sie dazu Nein sagen können? Aber das hatte sie getan. Leise und standhaft, in Anne-Manier. Ohne zu sagen, warum, ohne eine Erklärung. Einfach so.
Stattdessen wohnten sie jetzt hier, am Rand der Jammerlandbucht. Sie und er und Aleksander. Jedes Mal, wenn der Wind aus Nordwesten wehte, pfiff er ihnen um die Ohren, und sie waren allein. Viel zu weit weg, um eben mal schnell vorbeizuschauen, um dazuzugehören, ein Teil der herzlichen Gemeinschaft zu sein, sah man
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