Der Gringo Trail: Ein absurd komischer Road-Trip durch Südamerika (German Edition)
zwölf Menschen ertrunken waren, weil ich es ihm ständig gesagt hatte. Andererseits dachte er im mer, er könnte ein kleines bisschen weiter gehen als die meisten anderen Menschen. Was er in der Regel auch konnte.
„Es ist, als wenn da unsichtbare Energie-Fäden wären – wie ein Spinnennetz, das vom Ozean her nach mir greift und mich zu sich hin zieht“, sagte Mark. „Ich habe das Gefühl, dass ich sie rich tig sehen kann. Feine Silberfäden.“
„Es ist der Mond“, wiederholte Melissa. „Er greift nach uns, wie der Sog von Ebbe und Flut.“ Beide starrten in die Brandung. Ich wusste, dass Melissa ver nünftig genug sein würde, zu widerstehen. Aber bei Mark war ich mir da nicht so sicher.
„Denk aber dran, wenn du in Schwierigkeiten gerätst, kommt keiner, der dich wieder herauszieht. An diesem Strand gibt es kei ne Rettungsausrüstung, und du schwimmst besser als ich. Wenn du nicht gegen die Strömung ankommst, werde ich dich auch nicht herausziehen können. Vor allem nicht auf einem Trip.“ Mark lächelte reumütig und sagte nichts, aber ich konnte sehen, dass ich ihn überzeugt hatte. Ich entspannte mich.
Am Nachmittag begann es, abzukühlen. Ich beschloss, einen Spaziergang am Strand zu machen, solange es noch hell war. An ders als beim Ayahuasca- Trip bei den Cofan fiel mir das Laufen nicht schwer. Ich blieb stehen, um mich mit Campbell zu unter halten, aber wie Mark vorhergesagt hatte, hatte ich kaum das Be dürfnis, mit jemandem zu reden.
Die Menschen schienen weit entfernt. Ich fühlte mich von ih nen abgeschnitten, als würde ich durch ein Fenster in ein Zim mer sehen. Ich ging bis zum Ende des Strandes weiter, wo er in einem Schwung zur Landzunge hinaus verlief. Die Brandung war ungleichmäßig und wurde von der Krümmung der Bucht durcheinander gewirbelt. Ich sah am Strand entlang zurück. Die Brandung rollte in weißen Linien herein, und die Kokospalmen schwankten im Wind. Alles war wild und ungezähmt – das Meer, die vom Dschungel überwucherten Berge, die riesigen Findlinge am Strand, die zerklüftete Landzunge. Die Luft selbst. Dann be merkte ich neben mir einen Mann mittleren Alters mit silbernem Haar. Er schielte nervös zu mir hinüber und zitterte ständig mit einem Nasenflügel.
„Ich liebe wilde Orte“, sagte ich, als wäre ich eine Erklärung schuldig. Es schien ihn zu überraschen, dass ich etwas gesagt hatte. „Ah, si, si“ , sprudelte er hervor, als ginge ihm ein Licht auf – als hätte er eben erst entdeckt, warum er selbst dort stand. Er breitete seine Arme aus, um die Aussicht zu würdigen. „Ich liebe die Natur auch.“ Er schielte verstehend zu mir herüber, als hätte er einen Code geknackt, und zuckte wieder mit dem Nasenflügel.
Nun erinnerte ich mich wieder daran, wo ich ihn gesehen hat te. Er war der Koksdealer vom Miramar. Er war wie immer ein wandfrei gekleidet und stand wahrscheinlich nicht an diesem windigen, verlassenen Ort, nur weil er die Natur so liebte. Ich hat te das Gefühl, ich sollte ihn seinem Geschäft nachgehen lassen, und machte mich auf den Rückweg. Der silberhaarige Koksdealer wirkte irritiert. Er hatte meinen geheimen Code geknackt, aber ich hatte trotzdem nichts gekauft.
Ich spazierte ins Camp zurück. Weder Melissa noch Mark wa ren da. Ein Vogel hockte völlig bewegungslos, den Kopf schrägge stellt, auf einem Stück Feuerholz und sah mich direkt an. „Ich weiß“, schien der Vogel zu sagen. „Du bist jetzt in unserer Welt.“ Später erschien eine Katze.
Ich hatte in unserem Camp noch nie eine Katze gesehen, aber auch sie blieb direkt vor mir stehen und sah mir in die Augen. „Ich weiß es auch“, sagte sie. Die anbrechende Dämmerung er füllte die Luft mit einem sanften Orange-Pink, das allmählich ins Zwielicht überging. Der Strand erschien dadurch noch ma gischer. Mark, der nun wieder im Camp war, hatte eine wissen schaftlich klingende Erklärung zur Hand.
„Im Zwielicht schaltet unser Gesichtssinn allmählich von den Zapfen der Netzhaut, mit denen wir die Farben erkennen, zu den Stäbchen, mit denen wir nur schwarz und weiß erkennen, die aber Umrisse deutlicher wahrnehmen. Es ist wirklich eine Zeit der visuellen Transformation. Deswegen bekommt man dieses merkwürdige Gefühl, dass die Dinge nicht ganz so sind, wie sie scheinen.“
Wir saßen im Mondlicht am ausglühenden Feuer. Unsere Ge danken drifteten in die Nacht; wir lauschten den Wellen und den Tieren und den Menschen um uns her,
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