Der größere Teil der Welt - Roman
Stadtzentrum hinüber, und er folgte ihrem Blick zu der leeren Stelle, wo die Twin Towers gestanden hatten. »Da müsste etwas sein, weißt du«, sagte sie, ohne Bennie dabei anzusehen. »Wenigstens eine Art Echo. Oder ein Umriss.«
Bennie seufzte. »Die werden schon was hinstellen«, sagte er. »Wenn sie sich endlich genug gestritten haben.«
»Ich weiß.« Aber sie sah noch immer nach Süden, als sei das ein Problem, über das sie sich den Kopf zerbrach. Bennie war erleichtert, weil sie nichts begriffen hatte. Er dachte an seinen Mentor, Lou Kline, der ihm in den Neunzigern erzählt hatte, der Rock habe beim Monterey Popfestival seinen Höhepunkt erreicht. Sie waren in Lous Haus in L.A. gewesen, mit seinen Wasserfällen, den hübschen Mädchen, die Lou immer um sich gehabt hatte, seiner Autosammlung vor dem Haus, und Bennie hatte in das berühmte Gesicht seines alten Idols geschaut und gedacht, du bist erledigt. Nostalgie war der Anfang vom Ende – das wusste jeder. Lou war vor drei Monaten gestorben, nachdem ihn ein Schlaganfall gelähmt hatte.
Bei der nächsten Ampel fiel Bennie seine Liste ein. Er zog den Strafzettel heraus und vollendete sie.
»Was kritzelst du da die ganze Zeit auf das Knöllchen?«, fragte Sasha. Bennie reichte ihr die Liste, ohne daran zu denken, dass kein menschliches Auge sie erblicken sollte. Das fiel ihm einen Sekundenbruchteil zu spät ein. Zu seinem Entsetzen las Sasha sie jetzt laut vor: »Die Nonne geküsst, Unerträglich, Fieser Filz, Mohn, Auf dem Klo.«
Bennie wand sich beim Zuhören voller Qualen, als könnten die Wörter an sich schon eine Katastrophe auslösen. Aber sie wurden in der Sekunde, als Sasha sie mit ihrer kratzigen Stimme aussprach, neutralisiert.
»Nicht schlecht«, sagte sie. »Das sind Titel, ja?«
»Sicher«, sagte Bennie. »Kannst du sie noch mal vorlesen?«
Das tat sie, und jetzt klangen sie auch für ihn wie Titel. Er fühlte sich friedlich, geläutert.
»›Die Nonne geküsst‹ gefällt mir am besten«, sagte Sasha. »Wir müssen das irgendwie verwerten.«
Sie hielten jetzt vor ihrem Haus an der Forsyth Street. Die Straße wirkte verlassen und schlecht beleuchtet. Bennie wünschte, sie könnte in einer besseren Gegend wohnen. Sasha nahm ihre unvermeidliche schwarze Tasche, ein unförmiges Füllhorn, aus dem sie jeden Ordner, jede Nummer und jedes Papierstück hervorgezaubert hatte, das er in den vergangenen zwölf Jahren benötigt hatte. Bennie packte ihre dünne weiße Hand. »Hör mal«, sagte er. »Hör mal, Sasha.«
Sie schaute auf. Bennie verspürte überhaupt keine Lust – er hatte nicht einmal einen Steifen. Was er für Sasha empfand, war Liebe, eine Geborgenheit und Nähe wie die, die er bei Stephanie erlebt hatte, ehe er sie so oft hintergangen hatte, dass sie nicht mehr aufhören konnte, sauer auf ihn zu sein. »Ich bin verrückt nach dir, Sasha«, sagte er. »Echt.«
»Komm schon, Bennie«, wies Sasha ihn sanft zurecht. »Lass das besser.«
Er hielt ihre Hand mit beiden Händen. Sashas Finger waren zittrig und kalt. Ihre andere Hand lag schon auf der Tür.
»Warte«, sagte Bennie. »Bitte.«
Sie drehte sich zu ihm um, jetzt ganz nüchtern. »Das geht nicht, Bennie«, sagte sie. »Wir brauchen einander doch.«
Sie schauten sich im versiegenden Licht an. Sashas zarte Gesichtszüge waren mit hellen Sommersprossen übersät – es war ein mädchenhaftes Gesicht, aber sie hatte aufgehört, ein Mädchen zu sein, als er gerade nicht hingeschaut hatte.
Sasha beugte sich vor und küsste Bennie auf die Wange: ein keuscher Kuss, ein Kuss zwischen Bruder und Schwester, Mutter und Sohn, doch Bennie spürte, wie weich ihre Haut war und wie warm ihn ihr Atem anwehte. Dann hatte sie das Auto verlassen. Sie winkte ihm durch das Fenster zu und sagte etwas, das er nicht verstand. Bennie lehnte sich über den leeren Sitz, sein Gesicht war dicht vor dem Glas, er starrte sie an, als sie es noch einmal sagte. Noch immer verstand er es nicht. Als er sich schon abmühte, die Tür zu öffnen, sagte Sasha es ein weiteres Mal und formte dabei jedes Wort betont langsam: »Wir. Sehen. Uns. Morgen.«
3
Mir doch egal
Spätabends, wenn sonst nichts mehr offen hat, gehen wir zu Alice. Scotty fährt seinen Pick-up, zwei von uns quetschen sich vorn neben ihn und lassen mit voller Lautstärke Raubkopien von den Stranglers, den Nuns oder Negative Trend laufen, die beiden anderen sind hinten eingezwängt, wo du das ganze Jahr lang frierst und in die Luft
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