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Der größere Teil der Welt - Roman

Der größere Teil der Welt - Roman

Titel: Der größere Teil der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Egan
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Brust des Generals presste und für einen Moment die Augen schloss, kam Dolly zu sich – klick –, und der General, völlig aus dem Konzept gebracht, unsicher, was er tun sollte, tätschelte Kitty aus Höflichkeit den Rücken – klick –, worauf Kitty seine beiden schweren und schwieligen Pranken, die eines größeren Mannes, in ihre eigenen schmalen Hände nahm, sich zurücklehnte und ihm ins Gesicht lächelte – klick. Sie lächelte ein wenig, schüchtern, den Kopf zurückgelegt, als sei alles so albern, so peinlich für sie beide. Und dann lächelte der General, ganz ohne Vorwarnung: Seine Lippen zogen sich zurück und entblößten zwei Reihen kleiner gelber Zähne – klick. Das ließ ihn verletzlich aussehen und wie jemanden, der gern gefallen möchte. Klick, klick, klick – Dolly schoss so schnell sie konnte, ohne ihre Hand zu bewegen, denn dieses Lächeln war genaudas, was noch niemand gesehen hatte, die verborgene menschliche Seite des Generals, die die Welt in Erstaunen versetzen würde.
    Das alles dauerte nicht länger als einen Augenblick. Kein Wort war gesagt worden. Kitty und der General standen Hand in Hand da, beide ein wenig errötet, und Dolly musste sich alle Mühe geben, um nicht loszuschreien, weil sie es geschafft hatten. Sie hatte bekommen, was sie brauchte, ohne dass auch nur ein Wort gefallen war. Kitty gegenüber empfand sie Dankbarkeit, ja geradezu Ehrfurcht – für dieses Wunder, sie war ein Genie, das nicht nur mit dem General posiert, sondern das ihn gezähmt hatte. So kam es Dolly vor – als gäbe es eine Einbahnstraße zwischen der Welt des Generals und Kittys Welt, und als hätte die Schauspielerin ihn hinübergelockt, ohne dass er das auch nur bemerkt hätte. Er konnte jetzt nicht zurück! Und Dolly hatte es ermöglicht – zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie etwas Hilfreiches getan. Und Lulu hatte dabei zugesehen.
    Kittys Gesicht zeigte noch immer das gewinnende Lächeln, das sie für den General aufgesetzt hatte. Dolly beobachtete, wie die Schauspielerin die Umstehenden registrierte, die Dutzenden von Soldaten mit ihren automatischen Waffen, Arc und Lulu und Dolly, wie sie dabei, den Tränen nah, selig strahlte. Kitty musste wissen, dass sie es geschafft, dass sie ihre eigene Erlösung vollzogen, sich ihren Weg aus der Vergessenheit freigeschaufelt und den Weg zur Wiederaufnahme der Arbeit, die sie so liebte, freigeräumt hatte. Und das alles mit etwas Hilfe von dem Despoten zu ihrer Linken.
    »Aha«, sagte Kitty, »hier lassen Sie also die Leichen verscharren?«
    Der General schaute sie an, er hatte nichts verstanden. Arc trat eilig vor, Dolly ebenso. Auch Lulu kam dazu.
    »Verscharren Sie sie hier, in Massengräbern«, fragte Kitty den General in überaus freundlichem Konversationston. »Oder lassen Sie sie vorher verbrennen?«
    »Miss Jackson«, sagte Arc, angespannt und mit bedeutungsvollem Blick. »Der General kann Sie nicht verstehen.«
    Der General lächelte nicht mehr. Er war ein Mann, der es nicht dulden konnte, wenn er nicht wusste, was vor sich ging. Er ließ Kittys Hand los und sprach in strengem Ton mit Arc.
    Lulu zog Dolly an der Hand. »Mom«, zischte sie. »Sag ihr, sie soll aufhören.«
    Die Stimme ihrer Tochter riss Dolly aus einer vorübergehenden Lähmung. »Lass den Scheiß, Kitty«, sagte sie.
    »Fressen Sie sie?«, fragte Kitty den General. »Oder überlassen Sie das den Geiern?«
    »Halt den Mund, Kitty«, sagte Dolly lauter. »Hör mit diesen Spielchen auf.«
    Der General sagte etwas Grobes zu Arc, der sich daraufhin an Dolly wandte. Seine glatte Stirn war sichtlich feucht. »Der General wird langsam wütend, Miss Peale«, sagte er. Und das war der Code, Dolly konnte ihn deutlich entziffern. Sie trat zu Kitty hinüber, packte sie an ihrem gebräunten Arm und beugte sich zu Kittys Gesicht vor.
    »Wenn du so weitermachst«, sagte Dolly leise, »kommen wir hier nicht lebend raus.«
    Aber ein Blick in Kittys glühende, selbstzerstörerische Augen verriet ihr, dass es hoffnungslos war; Kitty konnte nicht aufhören. »Huch!«, sagte sie laut in geheuchelter Überraschung. »Hätte ich den Genozid etwa nicht erwähnen sollen?«
    Dieses Wort kannte der General. Er riss sich von Kitty los, als stünde sie in Flammen, und erteilte seinen Soldaten mit erstickter Stimme Befehle. Die stießen Dolly weg, rissen sie zu Boden. Als sie sich zu Kitty umschaute, hatten die Soldaten sie umstellt, und die Schauspielerin war nicht mehr zu sehen.
    Lulu

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