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Der größere Teil der Welt - Roman

Der größere Teil der Welt - Roman

Titel: Der größere Teil der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Egan
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schrie, während sie Dolly auf die Beine half: »Mommy, mach was, mach was! Sie sollen aufhören!«
    »Arc«, rief Dolly, aber Arc war jetzt für sie verloren. Er hatte seinen Platz neben dem vor Wut kreischenden General eingenommen. Die Soldaten trugen Kitty, Dolly glaubte, im Gewühl Tritte wahrzunehmen. Sie konnten noch immer Kittys hohe, durchdringende Stimme hören: »Trinken Sie ihr Blut, oder wischen Sie damit bloß den Fußboden? Tragen Sie ihre Zähne als Halskette?«
    Dann hörten sie einen Schlag und einen Schrei. Dolly sprang auf. Aber Kitty war verschwunden, die Soldaten trugen sie in ein Gebäude, das zwischen den Bäumen neben dem Landeplatz versteckt war. Der General und Arc folgten ihnen und schlossen die Tür. Der Dschungel war gespenstisch still, bis auf Papageienrufe und Lulus Schluchzen.
    Während der General tobte, hatte Arc zwei Soldaten Befehle zugeflüstert, und sobald der General nicht mehr zu sehen war, scheuchten sie Dolly und Lulu den Hügel hinab und zurück zu den Wagen. Die Fahrer warteten und rauchten Zigaretten. Auf der Fahrt hatte Lulu den Kopf in Dollys Schoß liegen, sie weinte, als sie durch den Dschungel und die Wüste zurückjagten. Dolly streichelte die weichen Haare ihrer Tochter und fragte sich wie betäubt, ob sie wohl ins Gefängnis gebracht würden. Aber endlich, als die Sonne sich zum Horizont senkte, fanden sie sich am Flughafen wieder. Das Flugzeug des Generals wartete schon. Inzwischen hatte Lulu sich aufgesetzt und war ans Fenster gerutscht.
    Lulu schlief, ihre Kate Spade-Schultasche an sich gedrückt, während des Fluges tief und fest. Dolly konnte nicht schlafen. Sie starrte nach vorn, auf Kittys leeren Sitz.
    Es war noch dunkel, als sie am frühen Morgen mit einem Taxi vom Flughafen Kennedy nach Hell’s Kitchen fuhren. Keine sagte etwas. Dolly staunte darüber, dass ihr Haus noch stand, dass die Wohnung noch immer oben an der Treppe lag, dass die Schlüssel in ihrer Handtasche steckten.
    Lulu ging sofort in ihr Zimmer und schloss die Tür. Dolly setzte sich in ihr Büro, wie gerädert vom Schlafmangel, und versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. Sollte sie mit der Botschaft anfangen? Dem Kongress? Wie lange würde es dauern, zu jemandem durchzudringen, der ihr wirklich helfen könnte? Und was sollte sie eigentlich sagen?
    Lulu tauchte in ihrer Schuluniform aus ihrem Zimmer auf, die Haare frisch gebürstet. Dolly war gar nicht aufgefallen, dass es draußen hell war. Lulu sah ihre Mutter, die noch immer die Kleider vom vorigen Tag trug, fragend an und sagte: »Wir müssen los.«
    »Du willst in die Schule?«
    »Natürlich will ich in die Schule. Was soll ich denn sonst tun?«
    Sie nahmen die U-Bahn. Das Schweigen zwischen ihnen war undurchdringlich geworden, Dolly fürchtete, dass es niemals enden würde. Als sie Lulus verhärmtes, gequältes Gesicht ansah, überlief es sie kalt. Wenn Kitty Jackson starb, das stand fest, wäre ihre Tochter für sie verloren.
    An ihrer Ecke drehte Lulu sich um, ohne auf Wiedersehen zu sagen.
    Ladenbesitzer zogen in der Lexington Avenue ihre Metallgitter hoch. Dolly holte sich einen Becher Kaffee. Sie wollte in Lulus Nähe sein. Sie beschloss, an dieser Ecke zu warten, bis der Schultag ihrer Tochter zu Ende wäre, noch fünfeinhalb Stunden. So lange würde sie auf ihrem Mobiltelefon Anrufe erledigen. Aber Dolly wurde abgelenkt vom Gedanken an Kitty in dem salbeigrünen Kleid, mit Ölverbrennungen, die an ihren Armen leuchteten, und dann von ihrem eigenen perversen Stolz, dass sie sich eingebildet hatte, den General gezähmt und die Welt damit verbessert zu haben.
    Das Telefon lag unbenutzt in ihrer Hand. Mit solchen Anrufen kannte sie sich nicht aus.
    Als die Tür hinter ihr aufging, sah Dolly, dass sie vor einem Fotoladen stand. Die versteckte Kamera lag noch immer in ihrer Handtasche. Das war doch eine Beschäftigung; sie ging hinein, gab sie ab und bat um Abzüge und eine CD mit allem, was heruntergeladen werden konnte.
    Eine Stunde später, als der Mann mit ihren Bildern herauskam, stand sie noch immer vor dem Laden. Inzwischen hatte sie einige Anrufe getätigt, aber niemand schien die Sache mit Kitty ernst zu nehmen. Und wer wollte ihnen da einen Vorwurf machen, überlegte Dolly.
    »Diese Aufnahmen … das war doch mit Photoshop, oder was?«, fragte der Typ. »Die sehen, na ja, total echt aus.«
    »Die sind echt«, sagte sie. »Ich hab sie selbst gemacht.«
    Der Typ lachte. »Hören Sie auf«, sagte er, und auf einmal hatte

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