Der größere Teil der Welt - Roman
Versuch, sich der ersten Schicht mit einer Nachahmung ihres normalen oder früheren Selbst wieder anzunähern.
Inzwischen sind sechzehn Minuten um.
»Gerüchte besagen«, nuschele ich mit dem Mund voller halb zerkautem Cheeseburger, in dem bewussten Versuch, mein Gegenüber anzuwidern und damit den prophylaktischen Schild aus Nettigkeiten zu durchbohren und die sorgfältige Zermürbung seiner Selbstkontrolle zu beginnen, »dass Sie sich mit Ihrem Co-Star eingelassen haben.«
Damit habe ich sie gepackt. Ich musste sie so damit überfallen, weil ich auf schmerzliche Weise gelernt habe, dass man schwierigen Gesprächspartnern zu viel Zeit gibt, ihre Stacheln auszufahren, und netten zu viel Zeit, sanft und errötend auszuweichen, wenn man die persönlichen Fragen vorsichtig einführt.
»Das stimmt doch überhaupt nicht!«, ruft Kitty. »Tom und ich sind nur gute Freunde. Ich liebe Nicole. Sie ist mein großes Vorbild. Ich war sogar Babysitterin bei ihnen!«
Ich entblöße mein Dickes Fettes Grinsen, eine sinnlose Taktik, die einfach nur mein Gegenüber aus dem Konzept bringen soll. Wenn meine Methoden unnötig grob wirken, dann bitte ich Sie, sich zu erinnern, dass mir vierzig Minuten zugeteilt worden sind, von denen zwanzig schon vergangen sind, und lassen Sie mich aus persönlicher Sicht hinzufügen: Wenn der Artikel nichts taugt – d.h., wenn er keinen Aspekt von Kitty enthüllt, der Ihnen bisher unbekannt ist (es heißt, das sei mir in meinen Berichten über die Elchjagd mit Leonardo DiCaprio, die Homerlektüre mit Sharon Stone und die Muschelsuche mit Jeremy Irons gelungen) –, kann er immer noch abgelehnt werden, und damit würden meine Aktien in New York und Los Angeles noch weiter fallen und die »Serie krasser Fehlschläge, die du gerade hinlegst, mein Lieber« (so wörtlich Atticus Levi, mein Freund und Chefredakteur, vorigen Monat beim Lunch), weiter andauern.
»Was gibt es da zu lächeln?«, fragt Kitty feindselig.
Sehen Sie? Nichts mehr mit nett.
»Habe ich gelächelt?«
Sie wendet ihre Aufmerksamkeit ihrem Cobb Salad zu. Ich auch, weil ich so wenige Anhaltspunkte habe, so gar keinen Zugang zum Allerheiligsten der Kitty Jackson, dass ich mich darauf beschränken muss, zu beobachten und jetzt die Tatsache mitzuteilen, dass sie während des Mittagessens sämtliche Salatblätter verzehrt, dazu schätzungsweise 2½ Hähnchenfleischbissen und mehrere Tomatenscheiben. Sie ignoriert die Oliven, den Blauschimmelkäse, die gekochten Eier, den Speck und die Avocado – mit anderen Worten, all die Bestandteile eines Cobb Salads, die einen Salat überhaupt erst zu einem Cobb Saladmachen. Das Dressing, das auf ihre Bitte separat serviert worden ist, rührt sie nicht an, außer dass sie einmal die Spitze ihres Zeigefingers kurz hineintunkt und ablutscht. 3
»Ich werde Ihnen sagen, was ich denke«, sage ich endlich, um die steigende Anspannung, die sich an unserem Tisch aufgebaut hat, etwas zu mildern. »Ich denke, sie ist neunzehn Jahre alt. Hat einen megaerfolgreichen Film hinter sich, die halbe Welt führt vor ihrem Fenster einen Regentanz auf, aber wo soll es nun hingehen? Was soll sie bloß tun?«
In Kittys Gesicht kann ich so einiges ablesen: Sie ist erleichtert, weil ich nichts Schlimmeres gesagt habe, zum Beispiel über Tom Cruise, und außer dass (oder wohl auch weil) sie erleichtert ist, hat sie kurz den Wunsch, in mir mehr zu sehen als nur einen weiteren Blödmann mit einem Tonbandgerät – in mir jemanden zu sehen, der versteht, wie unglaublich bizarr ihre Welt ist. Wie sehr wünschte ich mir, es wäre so! Ich würde wirklich gern ermessen können, wie bizarr Kittys Welt ist – tief in sie eintauchen und nie wieder herauskommen. Aber ich kann höchstens hoffen, dass Kitty Jackson nicht merkt, wie schier unmöglich jegliche wirkliche Kommunikation zwischen uns ist, und dass es mir inzwischen schon seit einundzwanzig Minuten gelungen ist, das vor ihr zu verbergen, ist ein Triumph.
Warum nehme ich in dieser Geschichte immer wieder Bezug auf mich selbst, ja dränge mich, wie man meinen könnte, dem Leser geradezu auf? Weil ich versuche, einer Neunzehnjährigen, die sehr, sehr nett ist, irgendwelches lesbare Material zu entlocken; ich versuche, daraus eine Geschichte zu stricken, die nicht nur die kuscheligen Geheimnisse ihres Teenagerherzens aufdeckt, sondern darüber hinaus eine Handlung hat, Entwicklungen andeutet und – so hoffe ich doch – einen höheren Sinn. Leider habe ich dabei ein
Weitere Kostenlose Bücher