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Der größere Teil der Welt - Roman

Der größere Teil der Welt - Roman

Titel: Der größere Teil der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Egan
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eigentlich hier?«
    Das war die Frage, vor der er sich gefürchtet hatte, aber die Antwort entglitt Ted wie Fleisch, das von einem Knochen fällt. »Ich bin hier, um Kunstwerke zu betrachten«, sagte er. »Kunst sehen und über Kunst nachdenken.«
    Da: ein plötzliches, erhebendes Gefühl von Frieden und Erleichterung. Er war gar nicht wegen Sasha gekommen, es stimmte.
    »Kunst?«
    »Das mache ich am liebsten«, sagte er und lächelte bei der Erinnerung an Orpheus und Eurydike am Nachmittag. »Das würde ich am liebsten die ganze Zeit tun, es ist mir wichtig.«
    Sashas Gesichtszüge lösten sich, als sei irgendein Gewicht, gegen das sie sich gestählt hatte, von ihr abgefallen. »Ich dachte schon, du wärst meinetwegen hier«, sagte sie.
    Ted musterte sie aus der Ferne. Aus einer friedlichen Ferne.
    Sasha steckte sich eine ihrer Marlboros an. Nach zwei Zügen drückte sie sie aus. »Tanzen wir«, sagte sie und erhob sich schwerfällig von ihrem Sitz. »Na los, Onkel Teddy.« Sie nahm seine Hand, führte ihn zum Tanzboden, einer flüssigen Masse aus Körpern, die Ted in panische Schüchternheit versetzte. Er zögerte und leistete Widerstand, aber Sasha zerrte ihn zwischen die anderen Tanzenden, und sofort bekam er Auftrieb, fühlte sich gelöst. Wie lange hatte er nicht mehr in einem Nachtclub getanzt? Fünfzehn Jahre? Mehr? Zögernd fing Ted an, sich zu bewegen, er kam sich unbeholfen vor, wie ein Tolpatsch in seinem Professorentweed, er bewegte seine Füße in einer Annäherung an Tanzschritte, bis ihm auffiel, dass Sasha sich überhaupt nicht rührte. Regungslos stand sie da und beobachtete ihn. Und dann streckte sie die Hand nach ihm aus, umfing Ted mit ihren langen Armen und klammerte sich an ihn, so dass er ihren zarten Körper spürte, die Höhe und das Gewicht dieser neuen Sasha, seiner erwachsenen Nichte, die einmal so klein gewesen war, und das Unwiderrufliche dieser Verwandlung machte Ted so traurig, dass es ihm die Kehle zuschnürte und schmerzhaft in der Nase kitzelte. Er klammerte sich an Sasha. Aber sie war verschwunden, dieses kleine Mädchen. Zusammen mit diesem leidenschaftlichen Jungen, der sie geliebt hatte.
    Endlich löste sie sich von ihm. »Warte hier«, sagte sie und schaute ihm nicht in die Augen. »Ich bin gleich wieder da.« Orientierungslos verharrte Ted zwischen den tanzenden Italienern, bis ein wachsendes Unbehagen ihn von der Tanzfläche vertrieb. Er blieb noch eine Weile am Rand. Irgendwann drehte er Runden durch den Club. Sie hatte Freunde erwähnt – konnte es sein, dass sie gerade irgendwo hier mit ihnen redete? Oder war sie nach draußen gegangen? Besorgt, benebelt von seinem eigenen Getränk bestellte sich Ted an der Bar ein San Pellegrino. Und erst jetzt, als er nach seiner Brieftasche griff und diese verschwunden war, merkte er, dass Sasha ihn bestohlen hatte.
    Sonnenlicht bohrte sich durch seine verklebten Augenlider und weckte ihn unsanft auf. Er hatte vergessen, die Jalousien herunterzuziehen. Als er endlich zu Bett gegangen war, war es fünf Uhr gewesen, und er hatte Stunden hilflosen Umherwanderns hinter sich und diverse irreführende Wegbeschreibungen zur nächsten Wache: Nachdem er sie endlich gefunden und (ohne die Identität der Taschendiebin preiszugeben) einem Polizeibeamten mit geölten Haaren und tadellos gleichgültiger Haltung seine traurige Geschichte erzählt hatte, bot ein älteres Ehepaar, mit dem er auf der Wache ins Gespräch gekommen war – ihre Papiere waren auf der Fähre von Amalfi gestohlen worden –, ihm an, ihn ins Hotel zu bringen (und um mehr war es ihm im Grunde nicht gegangen).
    Jetzt stand Ted mit Kopfdröhnen und Herzrasen aus dem Bett auf. Anrufbenachrichtigungen müllten den Tisch zu: fünf von Beth, drei von Susan und zwei von Alfred ( ich verlieren, lautete eine im gebrochenen Englisch des Hotelangestellten). Ted ließ sie dort liegen, wohin er sie geworfen hatte. Er duschte, zog sich an, ohne sich zu rasieren, kippte an der Minibar einen Wodka und nahm Bargeld und eine weitere Kreditkarte aus seinem Zimmersafe. Er musste Sasha jetzt finden – heute noch –, und dieser Imperativ, der ihn zu keinem bestimmten Zeitpunkt erfasst hatte, nahm eine Dringlichkeit an, die das perfekte Gegenteil seines bisherigen Zauderns darstellte. Es gab noch andere Dinge, die er erledigen musste – Beth anrufen, Susan anrufen, essen –, aber das kam jetzt alles nicht in Frage. Erst musste er sie finden.
    Aber wo? Ted grübelte über diese Frage nach,

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