Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der größere Teil der Welt - Roman

Der größere Teil der Welt - Roman

Titel: Der größere Teil der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Egan
Vom Netzwerk:
blinzelte. »Wade? Nein.«
    Er hatte sie dort verlassen, in dem weißen Hochhaus in Hongkong, sie war weiter in der Wohnung geblieben, bis deren Besitzer sie zum Gehen aufgefordert hatte. Dann war sie in eine Jugendherberge in einem Haus voller Sweatshops gezogen, wo die Menschen auf Haufen von Stoffresten unter ihren Nähmaschinen schliefen. Sasha erzählte diese Dinge munter, als sei das alles ein Heidenspaß gewesen. »Dann habe ich Freunde gefunden«, sagte sie. »Und wir sind nach China rübergegangen.«
    »Sind das die Freunde, mit denen du dich gestern getroffen hast?«
    Sasha lachte. »Ich lerne überall neue Leute kennen«, sagte sie. »So ist das auf Reisen, Onkel Teddy.«
    Sie hatte ganz rote Wangen – ob es nun am Wein lag oder vielleicht an den schönen Erinnerungen. Ted winkte nach der Rechnung und bezahlte. Er fühlte sich bleiern, deprimiert.
    Die Teenager hatten sich in die kühle Nacht zerstreut. Sasha hatte keinen Mantel an. »Bitte, nimm meine Jacke«, sagte Ted und zog den abgenutzten, schweren Tweed aus, aber davon wollte Sasha nichts hören. Er vermutete, dass sie unbedingt in ihrem roten Kleid gesehen werden wollte. Die hohen Stiefel betonten ihr Hinken noch.
    Nachdem sie an vielen Straßenzügen vorbeigegangen waren, erreichten sie einen skurrilen Nachtclub, dessen Türsteher sie lustlos hereinwinkte. Inzwischen war es Mitternacht. »Der Laden gehört Freunden von mir«, sagte Sasha und führte ihn durch ein Gewirr aus Körpern, fluoreszierendem lila Licht und einem Beat, so abwechslungsreich wie ein Presslufthammer. Sogar Ted, kein Kenner von Nachtclubs, nahm die müde Vertrautheit der Szene wahr, doch Sasha wirkte trotzdem hingerissen. »Kauf mir was zu trinken, Onkel Teddy, ja?«, sagte sie und zeigte auf ein grauenhaftes Gebräu auf einem Tisch in der Nähe. »So was, aber mit einem Schirmchen.«
    Ted bahnte sich einen Weg zur Bar. Sich von seiner Nichte zu entfernen, kam ihm vor, wie ein Fenster zu öffnen, eine erstickende Beklemmung abzuschütteln. Aber was war eigentlich so schlimm an ihr? Sasha hatte sich köstlich amüsiert, sie hatte die Welt gesehen; verdammt, sie hatte in zwei Jahren mehr unternommen als Ted in zwanzig. Warum also war er so darauf versessen, ihr zu entkommen?
    Sasha hatte zwei Stühle an einem niedrigen Tisch erobert, ein Arrangement, in dem Ted sich vorkam wie ein Affe, dem die Knie bis ans Kinn eingeklemmt waren. Als Sasha den Schirmchencocktail an die Lippen hob, glitt das lila Licht über Kerben aus bleichem Narbengewebe an der Innenseite ihres Handgelenks. Als sie ihr Glas hingestellt hatte, nahm Ted ihren Arm und drehte ihn um; Sasha ließ ihn gewähren, bis sie sah, was er betrachtete, dann riss sie ihren Arm weg. »Das ist von früher«, sagte sie. »In Los Angeles.«
    »Lass mich sehen.«
    Sie weigerte sich, doch zu seiner eigenen Überraschung packte Ted über den Tisch hinweg ihre Handgelenke, und es bereitete ihm eine zornige Lust, seiner Nichte wehzutun, indem er ihre Hände mit Gewalt umdrehte. Er sah, dass ihre Nägel rot waren, sie hatte sie an diesem Nachmittag lackiert. Sasha gab nach und schaute weg, solange er in dem kalten, seltsamen Licht ihre Unterarme musterte. Sie waren vernarbt und abgewetzt wie Möbelstücke.
    »Viele sind aus Zufall entstanden«, sagte Sasha. »Ich war wirklich aus dem Gleichgewicht.«
    »Du hast schlimme Zeiten durchgemacht.« Er wollte, dass sie das zugab.
    Es herrschte Schweigen, bis Sasha schließlich sagte: »Ich habe immer wieder geglaubt, meinen Vater zu sehen. Ist das nicht verrückt?«
    »Ich weiß nicht.«
    »In China oder Marokko. Wenn ich durch ein Zimmer schaute – bumm –, sah ich seine Haare. Oder seine Beine, ich kann mich noch genau an die Form seiner Beine erinnern. Oder daran, wie er beim Lachen den Kopf in den Nacken geworfen hat, weißt du noch, Onkel Teddy? Dass sein Lachen eher wie Gebrüll klang?«
    »Ja, jetzt, wo du es sagst.«
    »Ich dachte, dass er mir vielleicht folgte«, sagte Sasha, »um sicherzugehen, dass bei mir alles in Ordnung war. Und dann, als das offenbar nicht der Fall war, bekam ich es wirklich mit der Angst zu tun.«
    Ted ließ ihre Arme los, und sie verschränkte sie auf dem Schoß. »Ich dachte, er könnte mich wegen meiner Haare aufspüren. Aber jetzt sind die nicht mal mehr rot.«
    »Ich habe dich ja auch erkannt.«
    »Stimmt.« Sie beugte sich zu ihm vor, ihr bleiches Gesicht war dicht vor Teds und angespannt vor Erwartung. »Onkel Teddy«, sagte sie. »Was machst du

Weitere Kostenlose Bücher