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Der größere Teil der Welt - Roman

Der größere Teil der Welt - Roman

Titel: Der größere Teil der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Egan
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sind, will ich trotzdem auf den Rücksitz, damit ich mich in der Kälte an seiner Schulter reiben und ihn für einen Moment festhalten kann, wenn wir hochgeworfen werden.
    Bei unserem ersten Besuch in Sea Cliff, wo Alice wohnt, zeigte sie mir einen Hügel, auf dem sich Nebel zwischen die Eukalyptusbäume legte, und erzählte, dass ihre alte Schule dort oben lag; eine reine Mädchenschule, die jetzt ihre kleinen Schwestern besuchen. Vom Kindergarten bis zur sechsten Klasse tragen sie einen grünen karierten Pullover und braune Schuhe, danach einen blauen Rock und eine weiße Matrosenbluse, die Schuhe können sie sich selbst aussuchen. Scotty fragt, Können wir sie sehen?, und Alice fragt, Meine Uniformen?, aber Scotty sagt, Nein, deine angeblichen Schwestern.
    Sie führt uns nach oben, Scotty und Bennie sind gleich hinter ihr. Beide sind von Alice fasziniert, aber Bennie liebt sie wirklich. Und Alice liebt natürlich Scotty.
    Bennie hat die Schuhe ausgezogen, und ich sehe zu, wie seine braunen Fersen in dem weißen Zuckerwatteteppich versinken, der so dick ist, dass er alle Geräusche erstickt. Jocelyn und ich gehen ganz hinten. Sie beugt sich zu mir, und in ihrem Geflüster rieche ich den Kirschkaugummi, der die fünfhundert Zigaretten überlagert, die wir geraucht haben. Den Gin, den wir zu Beginn des Abends aus dem Geheimvorrat meines Dads getrunken haben, rieche ich nicht. Wir haben ihn in Coladosen gegossen, um ihn auf der Straße trinken zu können.
    Jocelyn sagt: Pass auf, Rhea. Ihre Schwestern sind bestimmt blond.
    Ich frage: Wieso das?
    Reiche Kinder sind immer blond, sagt Jocelyn. Das hängt mit den Vitaminen zusammen.
    Ich bin nicht so dumm, das für bare Münze zu nehmen. Schließlich kenne ich jeden, den Jocelyn auch kennt.
    Das Zimmer ist dunkel, abgesehen von einem rosa Nachtlicht. Ich bleibe in der Tür stehen, und auch Bennie bleibt zurück, die anderen drei aber drängen sich in dem Spalt zwischen den Betten. Alices kleine Schwestern schlafen auf der Seite, die Decken sorgfältig bis unter das Kinn gezogen. Eine sieht aus wie Alice, mit hellem welligen Haar, die andere ist dunkelhaarig wie Jocelyn. Ich habe Angst, sie könnten aufwachen und sich vor unseren Hundehalsbändern, den Sicherheitsnadeln und zerfetzten T-Shirts fürchten. Ich denke: Wir sollten nicht hier sein. Scotty hätte nicht fragen dürfen, ob wir reinkommen können. Alice hätte es nicht erlauben dürfen, nur sagt sie eben immer zu allem Ja, was Scotty will. Ich denke: Ich möchte mich auf eines dieser Betten legen und einschlafen.
    Ähem, flüstere ich Jocelyn zu, als wir das Zimmer verlassen. Dunkle Haare.
    Sie flüstert zurück: Schwarzes Schaf.
    Fast haben wir schon 1980, Gott sei Dank. Die Hippies werden alt, sie haben ihre Gehirnzellen mit LSD abgetötet und betteln jetzt überall in San Francisco an den Straßenecken. Ihre Haare sind verfilzt, ihre nackten Füße grau und dick wie Schuhe. Sie kotzen uns an.
    In der Schule verbringen wir jede freie Minute an der Boxengasse. Die ist streng genommen gar keine Rennstrecke, sondern ein gepflasterter Streifen oberhalb der Sportplätze. Wir haben sie von den Boxenludern aus dem letzten Jahr geerbt, als die Examen gemacht haben, aber wir werden noch immer nervös, wenn wir hingehen und schon andere da sind: Tatum, die jeden Tag einen Body in einer anderen Farbe trägt, oder Wayne, der in seinem Schließfach Sinsemilla zieht, oder Boomer, der, seit seine Familie eine Gruppentherapie gemacht hat, alles und jeden umarmt. Ich traue mich eigentlich nur hin, wenn Jocelyn schon da ist (oder sie umgekehrt, wenn ich da bin). Wir sind ein Herz und eine Seele.
    An warmen Tagen spielt Scotty Gitarre. Nicht die elektrische, die er bei den Flaming Dildos-Gigs benutzt, sondern eine Hawaii-Gitarre, die man anders hält. Scotty hat sie komplett selbst gebaut. Hat das Holz bearbeitet, geklebt, den Schellack aufgetragen. Wenn Scotty spielt, strömen alle zusammen – niemand kann sich dem entziehen. Einmal kletterten alle Mitglieder des Fußballteams der Unterstufe vom Sportplatz hoch, um zuzuhören, und schauten sich in ihren Trikots und den langen roten Socken verwirrt um, als wüssten sie nicht, wie sie dorthin geraten waren. Scotty hat eine magnetische Anziehungskraft. Und ich sage das als eine, die ihn nicht liebt.
    Die Flaming Dildos hatten schon eine Menge Namen: die Crabs, die Croks, die Crimps, Crunch, Scrunch, die Gawks, die Gobs, die Flaming Spiders, die Black Widows. Jedes Mal, wenn Scotty

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