Sechs Brüder wie wir
Eines Mittags kamen wir gerade alle von der Schule nach Hause – zusammen mit Mama, die uns abgeholt hatte –, als wir vor dem Eingang zu unserem Hochhaus dem neuen Briefträger begegneten. Mit der einen Hand hielt er sein Fahrrad fest und in der anderen hatte er einen großen Umschlag voller Briefmarken und Stempel.
„Bestimmt können Sie mir helfen“, sagte er und lüpfte dabei seine Kappe. „Ich habe hier einen Brief für einen gewissen Jean X., der im elften Stock wohnt.“
„Das bin ich“, sagte Jean Eins.
„Ich bin’s“, sagte ich.
„Das sind wir“, sagten Jean Drei und Jean Vier.
„Na, dann einigt euch mal, Jungs“, sagte der Postbote, der das alles für einen Witz zu halten schien. „Wer von euch heißt denn nun Jean X.?“
Aber das Lachen verging ihm, als auf einmal eine kleine Hand an seinem Hosenbein zerrte.
„Ich! Ich heiße S-s-sean!“, lispelte Jean Fünf, der immer etwas mit der Zunge anstößt.
Und genau in diesem Moment fing Jean Sechs, der bis vor Kurzem noch nicht sprechen konnte, in seinem Kinderwagen zu strampeln an.
„Er hat Recht“, sagte Mama. „Warum sollte er eigentlich nicht auch Post bekommen?“
Der Briefträger starrte mit weit aufgerissenen Augen die Initialen an, die auf das Lätzchen von Jean Sechs gestickt waren, und musterte uns dann alle sechs, einen nach dem anderen, als befürchte er, unter Halluzinationen zu leiden.
„Soll das ein dummer Scherz sein?“, fragte er und schluckte. „Ist das hier für die Versteckte Kamera ?“
„Ich möchte Sie bitten, höflich zu bleiben“, sagte Mama.
„Was ist die Versteckte Kamera ?“, fragte Jean Drei.
„Geht dich nichts an, Blödmann“, sagte Jean Eins, der jeden Donnerstag heimlich bei Stéphane Le Bihan Fernseh guckt.
„Na gut“, sagte der Briefträger mit einem seltsamen Lachen. „Wem soll ich den Brief denn jetzt geben?“
„Mir“, sagte Jean Eins.
„Mir“, sagte ich.
„Uns!“, riefen Jean Drei und Jean Vier.
„Mir“, sagte Jean Fünf.
„Wahaaaha!“, brüllte Jean Sechs.
„Etwas mehr Ruhe bitte!“, befahl Mama sehr ruhig und gefasst, bevor sie sich zum Briefträger wandte, der nun genauso klug war wie zuvor. „Macht Ihnen das Spaß, kleine Kinder zum Schreien zu bringen?“
Mama ist sehr beeindruckend, wenn sie ruhig und gefasst ist. Selbst Jean Sechs musste das gemerkt haben, denn er hörte sofort zu brüllen auf, als hätte man ihm den Stecker gezogen.
„Das ist meine erste Runde“, stammelte der Briefträger und deutete auf die vielen Briefkästen am Eingang unseres Hochhauses in Cherbourg. „Ich bin etwas durcheinander … Ich will einfach nur wissen, wo dieser Jean X. wohnt.“
„Na, das sind wir“, sagte Mama und nahm ihm den Brief aus der Hand.
„Wie?“, fragte der Briefträger. „Heißen diese Jungs hier alle Jean?“
„Wollen Sie mir unterstellen, ich wüsste die Vornamen meiner eigenen Kinder nicht?“, fragte Mama zurück.
Sie ließ den Brief in ihre Manteltasche gleiten und wir trabten im Gänsemarsch und mit hocherhobenem Kopf an dem verdutzten Briefträger vorbei.
So ist es immer, wenn wir zusammen unterwegs sind. Die Leute wollen einfach nicht glauben, dass wir eine ganz normale Familie sind und keine Pfadfindergruppe oder eine Clownsnummer vom Zirkus.
Sechs Brüder, das kommt schon nicht gerade häufig vor. Aber sechs Brüder, die alle mit Vornamen Jean heißen, damit schafft man es ins Guinness-Buch der Rekorde. Weil wir alle Segelohren und dieselben Haarwirbel haben, hat Papa, der sich Gesichter und Buchstaben nicht besonders gut merken kann, einen Trick gefunden, um uns auseinanderzuhalten: Er hat uns durchnummeriert. Zahlen kann er sich nämlich sehr gut merken, sagt er.
Also, da gibt es zunächst einmal Jean-A., elf Jahre, von allen nur Jean Eins genannt. Hält sich für einzigartig und will immer nur der Boss sein.
Ich bin Jean-B., für manche auch Bummelchen, weil ich so gern esse und ein bisschen rundlich bin. Unter den Jungs namens Jean in unserer Familie bin ich die Nummer zwei.
„Tja, Pech gehabt!“, pflegt Jean Eins immer zu sagen, der glaubt, dass er der Größte ist, nur weil er eine Brille hat und letztes Schuljahr der Liebling von Herrn Martel war. Als Ältester hat er in unserem Zimmer das obere Stockbett belegt und nutzt diese Tatsache gnadenlos aus, um das Licht auszuschalten, während ich noch lese, oder mir seine dreckigen Socken ins Gesicht zu werfen.
Im Zimmer der beiden Mittleren gibt es zunächst einmal
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