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Der groesste Teil der Welt

Der groesste Teil der Welt

Titel: Der groesste Teil der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Egan
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besagte Frau in mittleren Jahren nicht nur beschäftigt, sondern ihr auch diese Reise bezahlt, immer verachten.
    »Bücher über Anthropologie«, antwortet Mindy. »Ich arbeite in Berkeley an meiner Dissertation.«
    »Und warum lesen Sie dann nicht?«
    »Mir wird schlecht beim Fahren«, sagt Mindy, was plausibel ist, zumal in den wackligen Jeeps, aber trotzdem gelogen. Sie weiß nicht so recht, warum sie Boas oder Malinowski oder John Murra noch nicht aufgeschlagen hat, nimmt aber an, dass sie auf andere Weise lernt, was sich als ebenso fruchtbar erweisen wird. In kühnen Augenblicken, angefeuert von dem schwarzen Kaffee, der ihnen jeden Morgen im Küchenzelt serviert wird, hat Mindy sich sogar schon gefragt, ob ihre Erkenntnisse über die Verbindung zwischen gesellschaftlicher Struktur und emotionaler Reaktion jemals über einen Wiederaufguss, eine Verfeinerung, eine aktualisierte Anwendungsform von Levi-Strauss hinauskommen werde. Sie ist erst im zweiten Jahr ihrer Dissertation.
    Ihr Jeep ist der letzte von fünf, die auf einer unbefestigten Straße durch das Grasland fahren, dessen auf den ersten Blick ersichtliches Braun ein weites inneres Farbspektrum verbirgt: Lila. Grün. Rot. Albert, der missgelaunte Engländer, Ramseys Stellvertreter, fährt. Mindy ist es einige Tage lang gelungen, Alberts Jeep zu meiden, aber er steht inzwischen im Ruf, die besten Tiere zu entdecken, und obwohl heute nicht nach Tieren gesucht wird - sie kehren in die Hügel zurück und werden dort zum ersten Mal auf dieser Tour die Nacht in einem Hotel verbringen -, haben die Kinder gebeten, mit ihm fahren zu dürfen. Und Lous Kinder glücklich zu machen, oder so glücklich, wie es strukturell möglich ist, gehört zu Mindys Aufgaben.
    Strukturelle Ablehnung: Die halbwüchsige Tochter eines zweimal geschiedenen Mannes kann die Anwesenheit seiner neuen Freundin niemals hinnehmen, und sie wird alles tun, was in ihrer begrenzten Macht liegt, um ihn von besagter Freundin abzulenken, wobei ihre eigene erwachende Sexualität ihre wichtigste Waffe darstellt.
    Strukturelle Zuneigung: Der vorpubertäre Sohn eines zweimal geschiedenen Mannes (und dessen Lieblingskind) wird die neue Freundin seines Vaters akzeptieren und bereitwillig annehmen, da er es noch nicht gelernt hat, Zuneigung und Begierde seines Vaters von seinen eigenen Neigungen zu trennen. In gewisser Weise wird auch er die neue Freundin lieben und begehren, und sie wird ihm mütterliche Gefühle entgegenbringen, obwohl sie nicht alt genug ist, um seine Mutter zu sein.
    Lou öffnet den großen Aluminiumkasten, in dem die Einzelteile seiner neuen Kamera in ihrer Schaumgummipackung liegen wie ein zerlegtes Gewehr. Er benutzt die Kamera, um die Langeweile abzuwehren, die ihn überkommt, wenn er sich sonst nicht körperlich betätigen kann. Er hat einen winzigen Kassettenrekorder mit kleinen Schaumgummikopfhörern ausgestattet, um sich Demobänder und Rohmixe anhören zu können. Ab und zu reicht er das Gerät an Mindy weiter und will ihre Meinung hören, und jedes Mal, wenn die Musik für sie ganz allein direkt an ihr Trommelfell dringt, treten ihr von dem Schock Tränen in die Augen, weil es so intim ist, weil es ihre Umgebung in eine goldene Filmmontage verwandelt, so als schaue sie aus einer fernen Zukunft zurück auf diese Reise durch Afrika mit Lou.
    Strukturelle Unvereinbarkeit: Ein zweimal geschiedener Alphamann wird unfähig sein, den Ehrgeiz seiner viel jüngeren Gefährtin zu akzeptieren, geschweige denn ihn zu billigen. Zwangsläufig wird ihre Beziehung nur vorübergehend sein.
    Strukturelles Verlangen: Die viel jüngere vorübergehende Gefährtin des Alphamannes wird sich unvermeidlich zu dem einzigen Mann in Reichweite hingezogen fühlen, der die Macht ihres Gefährten missachtet.
    Albert lässt beim Fahren den Ellbogen aus dem Fenster hängen. Auf der Safari hat er sich meistens schweigend im Hintergrund gehalten, rasch im Küchenzelt gegessen und die Fragen der Reisenden nur knapp beantwortet. (»Wo wohnst du?«
    »Mombasa.«
    »Wie lange bist du schon in Afrika?«
    »Acht Jahre.«
    »Was hat dich hergeführt?«
    »Dies und jenes.«) Er schließt sich nach dem Abendessen nur selten der Gruppe um das Feuer an. Auf dem Weg zur Toilette sah Mindy Albert eines Nachts beim anderen Feuer in der Nähe der Personalzelte, wo er ein Bier trank und mit den Kikuyu-Fahrern lachte. Unterwegs mit der Reisegruppe lächelt er nur selten. Wann immer seine Blicke Mindy zufällig streifen, spürt

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