Der groesste Teil der Welt
sie, dass er sich ihretwegen schämt; weil sie hübsch ist, weil sie mit Lou schläft, weil sie sich immer wieder einredet, dass diese Reise ihrer anthropologischen Forschung über Gruppendynamik und ethnische Enklaven dient, während es ihr in Wirklichkeit um Luxus, Abenteuer und eine Pause von ihren vier schlaflosen Mitbewohnerinnen geht.
Neben Albert, auf dem Schützensitz, lässt Chronos sich über Tiere aus. Er ist Bassist bei den Mad Hatters, einer von Lous Bands, und er nimmt zusammen mit dem Gitarristen der Hatters und ihren beiden Freundinnen als Lous Gast an der Reise teil. Diese vier haben sich instinktiv in einen Tierbeobachtungswettbewerb verbissen. (Strukturelle Fixierung = kollektive, situationsbedingte Besessenheit, in der sich Gier, Rivalität und Neid vorübergehend bündeln.)
Sie fordern sich gegenseitig jeden Abend damit heraus, wer mehr gesehen hat und aus welcher Entfernung, sie rufen Zeugen aus ihren jeweiligen Jeeps heran und versprechen einander endgültige Beweise, sobald sie zu Hause ihren Film entwickelt haben.
Hinter Albert sitzt Cora, die Reiseleiterin, und neben ihr schaut Dean aus dem Fenster, ein blonder Schauspieler, dessen geniale Fähigkeit, das Offenkundige festzustellen - »Es ist heiß« oder »Die Sonne geht unter« oder »Hier gibt es nicht viele Bäume« -, Mindy unendlich amüsiert. Dean spielt die Hauptrolle in einem Film, an dessen Soundtrack Lou mitwirkt; alle scheinen anzunehmen, dass die Premiere Dean sofortigen und stratosphärischen Ruhm bringen wird. Auf dem Sitz hinter ihm zeigen Rolph und Charlie Mildred, einer der Vogelbeobachterinnen, ihr Mad-Heit. Mildred oder ihre Gefährtin Fiona sind meistens in der Nähe von Lou zu finden, der unermüdlich mit ihnen flirtet und sie anstachelt, ihn zum Vögelbeobachten mitzunehmen. Seine Schwäche für diese Damen von über siebzig (die er vor der Reise noch nie gesehen hatte) fasziniert Mindy, sie kann keinen strukturellen Grund dafür erkennen.
In der letzten Reihe, neben Mindy, schiebt Lou seinen Oberkörper durch das offene Dach und macht Bilder, er ignoriert die Vorschrift, sitzen zu bleiben, solange der Jeep sich bewegt. Albert macht eine plötzliche Kurve, Lou knallt auf seinen Sitz zurück und die Kamera schlägt gegen seine Stirn. Er verflucht Albert, aber seine Verwünschungen verlieren sich beim wackligen Kampf des Jeeps durch das hohe Gras. Sie haben die Straße verlassen. Chronos beugt sich aus dem offenen Fenster, und Mindy geht auf, dass Albert diesen Umweg seinetwegen fährt, er gibt Chronos eine Chance, gegenüber seinen Rivalen Punkte zu sammeln. Oder war die Versuchung, Lou zu Fall zu bringen, zu süß, um zu widerstehen?
Nach kurzer, chaotischer Fahrt hält der Jeep nur wenige Meter vor einem Rudel Löwen. Alle erstarren in verwirrtem Schweigen - so dicht sind sie auf dieser Fahrt noch an kein Tier herangekommen. Der Motor läuft noch, Alberts Hand liegt zögernd auf dem Lenkrad, aber die Löwen wirken so entspannt, so gleichgültig, dass er den Motor ausmacht. In der anschließenden vom letzten Tuckern des Motors untermalten Stille können sie die Löwen atmen hören: zwei Weibchen, ein Männchen, drei Junge. Die Jungen und eines der Weibchen verschlingen gierig den blutigen Kadaver eines Zebras. Die anderen dösen.
»Sie fressen«, sagt Dean.
Chronos’ Hände zittern, als er einen Film in seine Kamera einlegt. »Mann«, murmelt er immer wieder. »Mann, Mann, Mann.«
Albert zündet sich eine Zigarette an - im Busch verboten - und wartet, mit einer solchen Gleichgültigkeit gegenüber dieser Szene, als ob er vor einer Toilette anstünde.
»Können wir uns hinstellen?«, fragen die Kinder. »Oder ist das zu gefährlich?«
»Ich stehe ganz bestimmt auf«, sagt Lou.
Lou, Charlie, Rolph, Chronos und Dean steigen auf ihre Sitze und quetschen ihre Oberkörper aus dem offenen Dach. Mindy ist jetzt im Grunde im Jeep allein, mit Albert, Cora und Mildred, die durch ihr Fernglas, mit dem sie sonst Vögel beobachtet, die Löwen anstarrt.
»Woher hast du das gewusst?«, fragt Mindy nach einer Weile.
Albert dreht sich herum, um sie am anderen Ende des Jeeps anzusehen. Er hat widerspenstiges Haar und einen weichen braunen Schnurrbart. Auf seinem Gesicht zeichnet sich ein humorvoller Ausdruck ab. »Hab ich geraten.«
»Aus einer halben Meile Entfernung?«
»Vermutlich hat er einen sechsten Sinn«, sagt Cora. »Nach so vielen Jahren hier.«
Albert wendet sich wieder nach vorne und bläst Rauch aus dem
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