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Der Grosse Eisenbahnraub: Roman

Der Grosse Eisenbahnraub: Roman

Titel: Der Grosse Eisenbahnraub: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Crichton
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Londons, wo sich das Elendsviertel St. Giles befand, das sogenannte »Heilige Land«. Dank seiner Nähe zu den Theatern am Leicester Square, zum Dirnenviertel am Haymarket und zu den eleganten Geschäften der Regent Street hatte St. Giles eine strategisch günstige Lage für Kriminelle, die »untertauchen« wollten.
    In zeitgenössischen Berichten wird das Heilige Land als »dichte Masse von Häusern« beschrieben, »die so alt sind, daß man den trügerischen Eindruck erhält, sie könnten gar nicht einstürzen. Dazwischen winden und schlängeln sich enge Gassen. Hier kann sich niemand in eigene vier Wände zurückziehen, und wer sich in dieses Viertel hineinwagt, findet die – nur aus Höflichkeit so genannten – Straßen voller Nichtstuer und blickt durch trübe Fensterscheiben in Räume, die zum Bersten überfüllt sind und in denen man kaum atmen kann.« Es finden sich Hinweise auf »Rinnsteine, in denen eine stinkende Brühe steht«, auf den »unbeschreiblichen Schmutz in dunklen
    Gängen, auf rußverschmierte Wände, Türen fallen aus ihren Angeln … und überall wimmelt es von Kindern, die ihre Notdurft verrichten, wo immer es ihnen behagt«.
    Eine derart verwahrloste, übelriechende und gefährliche Behausung war gewiß kein Aufenthaltsort für einen vornehmen Herrn, schon gar nicht nach Einbruch der Dunkelheit an einem nebligen Sommerabend. Aber Ende Juli 1854 promenierte ein modisch gekleideter rotbärtiger Herr furchtlos durch die rauchgeschwängerten, überfüllten und engen Gassen. Den Tagedieben und Landstreichern, die ihm mit den Blicken folgten, konnte nicht entgehen, daß sein mit einem Silberknauf versehener Stock auffällig schwer zu sein schien und gut einen Degen verbergen konnte. Eine Ausbuchtung der Hose deutete darauf hin, daß im Gürtel ein »Kracher« steckte. Allein schon die Kühnheit dieses Vordringens ins Heilige Land mochte viele der Wegelagerer einschüchtern, die versucht sein konnten, diesen Mann zu überfallen.
    Pierce selbst sagte später einmal: »Es ist das Auftreten, das von diesen Leuten respektiert wird. Jeder Mann, der keine Angst vor ihnen zeigt, versetzt sie selbst in Angst.«
    Pierce ging durch die stinkenden Straßen und fragte nach einer bestimmten Frau. Schließlich fand er einen lungernden Trunkenbold, der sie kannte.
    »Ist es Maggie, die Sie suchen? Die kleine Maggie?« fragte der Mann. Er lehnte im Nebel an einem gelben Gaslaternenpfahl. Im dichten Schatten konnte man sein Gesicht kaum erkennen.
    »Ich suche eine Hure – Sauber-Willys Schatz.«
    »Die kenne ich. Sie ist Waschfrau und läßt ab und zu was mitgehen. Ja, das ist sie.« Hier machte der Mann eine bedeutungsvolle Pause und sah Pierce blinzelnd an.
    Pierce gab ihm eine Münze. »Wo finde ich sie?«
    »Erster Durchgang, erste Tür zur rechten Hand«, sagte der Mann.
    Pierce setzte seinen Weg fort.
    »Brauchen sich gar nicht die Mühe zu machen«, rief der Mann hinter ihm her. »Willy sitzt im Kittchen, in Newgate sogar, und reißt seine Zeit in der Tretmühle ab.«
    Pierce sah sich nicht um. Er ging die Straße hinunter, vorbei an schemenhaften Gestalten im Nebel, hier und da leuchtete etwas im Dunkeln auf – Phosphorflecken am Kleid einer Frau, die in der Zündholzfabrik arbeitete.
    Hunde bellten. Kinder weinten. Durch den Nebel drangen Geflüster, Stöhnen und Gelächter an Pierce’ Ohr. Schließlich gelangte er zu der schäbigen Herberge, an deren Eingang ein Rechteck gelben Lichts ein unbeholfen beschriftetes Schild beleuchtete. Dort stand zu lesen:
    ZIMMER FÜR REISENDE
    Pierce warf einen Blick auf das Schild und betrat das Haus. Er bahnte sich den Weg durch ein Gewimmel schmutziger und abgerissener Kinder, die sich auf den Treppen drängten. Einem versetzte er einen Schlag mit der flachen Hand, um ihnen allen zu zeigen, daß er ein Herumfingern an seinen Anzugtaschen nicht dulden würde. Er ging die knarrenden Stufen zum ersten Stock hinauf und fragte nach Maggie. Man sagte ihm, sie sei in der Küche, und so ging er wieder ins Erdgeschoß hinunter.
    Die Küche war der Mittelpunkt dieser Art von Herbergen, und um diese Stunde war sie ein warmer und freundlicher Ort, in dem Hitze und starke Gerüche miteinander verschmolzen, während draußen vor den Fenstern grauer und kalter Nebel waberte. Ein halbes Dutzend Männer stand plaudernd und trinkend am Herdfeuer. An einem Seitentisch spielten einige Männer und Frauen Karten, während andere dampfende Suppen in sich hineinlöffelten. In den Ecken

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