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Der Grosse Eisenbahnraub: Roman

Der Grosse Eisenbahnraub: Roman

Titel: Der Grosse Eisenbahnraub: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Crichton
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türmten sich Musikinstrumente, Krücken von Bettlern, Körbe von Hausierern und Bauchläden von Straßenhändlern. Pierce fand Maggie, ein schmutziges Kind von zwölf Jahren, und zog es beiseite. Er gab dem Mädchen eine Gold-Guinee. Sie biß darauf und bleckte die Zähne zu einem leichten Lächeln.
    »Worum geht’s denn, Herr?« Sie sah anerkennend auf seine feine Kleidung. Dieser berechnende Blick war nicht mehr der Blick eines zwölfjährigen Kindes. »Ein bißchen Spaß zu zweit?«
    Pierce ignorierte den Vorschlag. »Du hast es mit SauberWilly?«
    Sie zuckte die Achseln. »Das war einmal, Willy sitzt.«
    »Newgate?«
    »Ja.«
    »Besuchst du ihn manchmal?«
    »Ja, ab und zu. Ich gehe als seine Schwester hin, verstehen Sie?«
    Pierce zeigte auf die Münze, die sie in der Hand hielt.
    »Du kriegst noch eine davon, wenn du ihm eine Nachricht bringen kannst.«
    Einen Augenblick blitzte es in den Augen des Mädchens auf. Dann wurden sie wieder ausdruckslos. »Worum geht’s?«
    »Sag Willy, er soll bei der nächsten Hinrichtung ausbrechen. Man wird Emma Barnes hängen, die Mörderin. Sie werden sie ganz sicher öffentlich hängen. Sag ihm: Brich bei der Hinrichtung aus.«
    Sie lachte. Es war ein seltsames Lachen, harsch und rauh.
    »Willy sitzt in Newgate«, sagte sie, »und da bricht keiner aus – ob gerade jemand aufgehängt wird oder nicht.«
    »Sag ihm, daß er’s schon schaffen wird«, sagte Pierce. »Sag ihm, er soll zu dem Haus gehen, wo er John Simms kennengelernt hat; dann wird schon alles in Ordnung kommen.«
    »Sind Sie John Simms?«
    »Ich bin ein Freund«, erwiderte Pierce. »Sag ihm, bei der nächsten Hinrichtung. Entweder er schafft es, oder er ist nicht Sauber-Willy.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Wie soll er aus Newgate ausbrechen?«
    »Sag’s ihm nur«, entgegnete Pierce und wandte sich zum Gehen.
    An der Küchentür drehte er sich um und sah sie an: ein mageres Kind mit hängenden Schultern, das in einem zerlumpten Kleid steckte. Das Kleid war mit Schmutzflecken übersät, ihr Haar verfilzt und schmutzig.
    »Ich werd’s ihm sagen«, versetzte sie und ließ das Goldstück im Schuh verschwinden.
    Pierce wandte sich ab und verließ das Heilige Land auf dem Weg, auf dem er gekommen war. Er trat aus einer schmalen Gasse auf den Leicester Square und verschwand in der Menge vor dem Mayberry Theatre.

Der Tag eines Bankiers
    Das ehrbare London schlief friedlich. In der Zeit vor der Erfindung des Verbrennungsmotors lag das Geschäftsund Bankenviertel im Herzen der Stadt nach Einbruch der Dunkelheit verlassen und still da. Nur die festen Schritte der Konstabler der Metropolitan Police durchbrachen alle zwanzig Minuten das nächtliche Schweigen.
    Wenn der Morgen graute, hörte man Hähne krähen und Kühe muhen – ländliche Laute, die nicht recht zu einer so städtischen Umgebung passen wollten. Aber in jenen Tagen gab es in der Innenstadt viel Vieh, und die Viehzucht war in London noch immer ein bedeutender Erwerbszweig und zudem tagsüber eine
    Hauptursache von Verkehrsstockungen. Es konnte einem besseren Herrn durchaus passieren, daß ein Schäfer mit seiner Herde auf den Straßen der Innenstadt seiner Kutsche den Weg versperrte. London war damals das größte städtische Gemeinwesen der Erde, aber die Grenzen zwischen städtischem und ländlichem Leben waren – wenn man moderne Maßstäbe anlegt – noch fließend.
    Aber nur so lange, bis die Turmuhr der Horse Guards sieben schlug und die ersten jener Menschen, die wir heute »Pendler« nennen, ihrer Arbeit zustrebten, allerdings »auf Schusters Rappen«, also zu Fuß. Es waren die Heere von Frauen und Mädchen, die bis zur Erschöpfung in den Kleiderfabriken im West End arbeiteten – zwölf Stunden am Tag und für nur ein paar Shillinge in der Woche.
    Um acht Uhr wurden die hölzernen Läden der Geschäfte an den großen Straßen abgenommen; Lehrlinge und Gehilfen dekorierten die Schaufenster für den neuen Tag, stellten zur Schau, was ein zeitgenössischer sarkastischer Beobachter »die unzähligen Albernheiten und den ganzen Krimskrams der jeweils neuesten Mode« nannte.
    Zwischen acht und neun Uhr herrschte dichter Verkehr.
    Auf den Straßen drängten sich die Menschen. Alle Welt war auf den Beinen, Regierungsbeamte, Bankkassierer, Börsenmakler, Zuckerbäcker, Seifensieder. Sie legten den Weg zur Arbeit zu Fuß, in Pferdeomnibussen oder Kutschen zurück – ein ratterndes, lärmendes, drangvoll enges Durcheinander von Fuhrwerken und

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