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Der Grosse Eisenbahnraub: Roman

Der Grosse Eisenbahnraub: Roman

Titel: Der Grosse Eisenbahnraub: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Crichton
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Pierce.
    Burgess, der noch ungeduldiger wurde, nickte und tippte auf die silbernen Buchstaben SER an seinem Kragen: die Initialen der South Eastern Railway.
    Pierce stellte diese Fragen keineswegs, um Informationen zu erhalten; er wußte bereits eine ganze Menge über Richard
    Burgess, einen Wachmann der SER, der die Züge der Bahngesellschaft begleitete. Er wußte, wo Burgess wohnte, er wußte, welcher Arbeit seine Frau nachging, er wußte, daß die beiden zwei Kinder im Alter von zwei und vier Jahren hatten, und es war ihm auch bekannt, daß das vierjährige Kind kränkelte und daß ab und zu ein Arzt kommen mußte, was Burgess und seine Frau sich eigentlich nicht leisten konnten. Pierce wußte, daß ihr Zimmer in der Moresby Road eine schmutzige Kammer war, in der der Putz von den Wänden bröckelte und in die statt frischer Luft die schwefelhaltigen Dämpfe eines nahe gelegenen Gaswerks hineinwehten.
    Pierce wußte auch, daß Burgess der am schlechtesten bezahlten Kategorie von Bahnangestellten angehörte. Ein Lokführer wurde mit 35 Shilling pro Woche entlohnt, ein Zugführer erhielt 25, ein Schaffner 20 oder 21, aber ein Wachmann erhielt nur 15 Shilling in der Woche und durfte sich glücklich schätzen, wenn es nicht noch weniger war.
    Burgess’ Frau verdiente 10 Shilling pro Woche. Das bedeutete also, daß die Familie von insgesamt rund 65 Pfund im Jahr leben mußte. Allerdings mußte Burgess unter anderem sogar seine Uniform selbst bezahlen, so daß er in Wirklichkeit kaum mehr als 55 Pfund im Jahr zur Verfügung hatte, um sich und seine Familie durchzubringen.
    Damals lebten viele Menschen von einem ähnlich niedrigen Lohn, aber die meisten hatten noch irgendwelche Nebeneinkünfte: Zusätzliche Arbeit, Trinkgelder oder ein Kind in der Fabrik waren die üblichen Nebenerwerbsquellen.
    Burgess mußte ohne solche Einnahmen auskommen. Kein Wunder, daß er sich in einem Lokal, wo man 2 Shilling für ein Glas Gin verlangte, nicht wohl fühlte.
    »Was wollen Sie also?« fragte Burgess und starrte in sein Glas.
    »Ich frage mich, ob Sie gute Augen haben.«
    »Gute Augen?«
    »Ja.«
    »Meine Augen sind nicht schlecht.«
    »Ich frage mich«, sagte Pierce, »was man tun könnte, damit sie etwas weniger gut sehen.«
    Burgess seufzte und schwieg. Dann sagte er mit müder Stimme: »Ich habe schon mal in Newgate gesessen. Vor ein paar Jahren. Ich habe keine Lust, die Tretmühle wiederzusehen.«
    »Absolut verständlich«, sagte Pierce. »Und ich habe keine Lust, daß jemand meine Pläne durchkreuzt. Da haben wir also beide unsere Ängste.«
    Burgess stürzte einen Gin hinunter. »Und wenn ich ein Auge zukneife …?«
    »Zweihundert Pfund«, erwiderte Pierce.
    Burgess verschluckte sich und hustete los. Er schlug sich mit seiner riesigen Faust auf die Brust. »Zweihundert Pfund!« wiederholte er.
    »Ganz richtig«, sagte Pierce. »Hier sind erst mal zehn.«
    Er zog seine Brieftasche hervor, entnahm ihr zwei FünfPfund-Noten und hielt dabei die Brieftasche so, daß Burgess nicht entgehen konnte, wie prall sie gefüllt war. Pierce legte das Geld auf die Theke.
    »Schöner Anblick. Fast so schön wie ‘ne scharfe Mesuse«, sagte Burgess, rührte das Geld aber nicht an. »Worum geht’s?«
    »Das lassen Sie nur meine Sorge sein.«
    »Ich muß doch immerhin wissen, was ich nicht sehen soll.«
    »Na, jedenfalls werden Sie die Tretmühle nicht wiedersehen, das verspreche ich Ihnen.«
    Burgess blieb halsstarrig. »Sie müssen schon deutlicher werden!«
    Pierce seufzte. Er griff nach dem Geld. »Tut mir leid«, sagte er, »ich fürchte, ich muß mein Glück woanders versuchen.«
    Burgess packte seine Hand. »Nicht so hastig«, sagte er.
    »Ich frage ja nur.«
    »Ich kann es Ihnen nicht sagen.«
    »Sie glauben, ich würde bei den Greifern singen?«
    »So etwas«, sagte Pierce, »soll schon vorgekommen sein.«
    »Aber nicht bei mir.« Pierce zuckte die Achseln.
    Einen Augenblick herrschte Schweigen. Aber schließlich streckte Burgess die andere Hand aus und nahm die beiden Fünf-Pfund-Noten an sich. »Also, sagen Sie schon, was ich tun soll.«
    »Sehr einfach«, sagte Pierce. »Ein Mann wird Sie fragen, ob Ihre Frau Ihnen die Uniformen näht. Und dann sehen Sie … einfach weg.«
    »Das ist alles?«
    »Das ist alles.«
    »Für zweihundert Pfund?«
    »Für zweihundert Pfund.«
    Burgess zog die Stirn kraus und fing dann an zu lachen.
    »Was gibt’s da zu lachen?« fragte Pierce.
    »Das schaffen Sie nie«, sagte Burgess. »Das ist nicht

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