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Der Grosse Eisenbahnraub: Roman

Der Grosse Eisenbahnraub: Roman

Titel: Der Grosse Eisenbahnraub: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Crichton
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beobachtet, wie die Bestie mit einer erwachsenen Frau im Maul das Weite suchte. Das Opfer soll sich heftig gewehrt und herzzerreißend geschrien haben.«
    Diese und ähnliche Geschichten wurden zu Themen entzückter Tischgespräche, vor allem bei Leuten mit einem Hang zu pikanter Konversation. Die Frauen erröteten, kicherten und exaltierten sich, während die Männer – vor allem solche, die der East India Company in Asien gedient hatten – kenntnisreich über die Gewohnheiten einer solchen Bestie und ihren Charakter sprachen. Eine der East India Company gehörende interessante Nachbildung eines Tigers, der gerade einen Engländer verspeist, wurde von faszinierten Besuchern umlagert. (Man kann das Stück noch heute im Victoria and Albert Muse um bewundern.)
    Als am 17. Februar 1855 ein ausgewachsener Leopard in einem Käfig am London Bridge-Bahnhof ankam, erregte er verständlicherweise beträchtliches Aufsehen – weit mehr Aufsehen als die kurz zuvor angelieferten eisenbeschlagenen Kisten mit Gold, die von bewaffneten Wachen in den Packwagen der South Eastern Railway geladen wurden.
    Hier konnte man eine fauchende und knurrende Bestie in voller Lebensgröße sehen, die brüllend die Eisenstangen ihres Käfigs attackierte, während sie in den Packwagen des Zuges London-Folkestone verladen wurde. Der Wärter des Tiers begleitete den Transport, einmal, um auf das Wohl des Leoparden zu achten, zum andern, um den Wachmann der Bahn zu beschützen, falls sich etwas Unvorhergesehenes ereignen sollte.
    Vor Abfahrt des Zuges erklärte der Wärter der Menge neugieriger Zuschauer und Kinder, die Bestie fresse rohes Fleisch, es sei ein vierjähriges Weibchen und für den Kontinent bestimmt, als Geschenk für eine Dame von hoher Geburt.
    Kurz nach acht dampfte der Zug aus dem Bahnhof. Der Wachmann im Packwagen schloß die Schiebetür. Während der Leopard im Käfig ruhelos auf und ab tapste, herrschte zunächst kurzes Schweigen. Von Zeit zu Zeit ließ das Tier ein Knurren hören. Schließlich fragte der Wachmann: »Womit füttern Sie ihn?«
    Der Tierpfleger wandte sich dem Wachmann zu. »Näht Ihre Frau Ihnen die Uniformen?« fragte er. Burgess lachte. »Sie sind das also?«
    Der Wärter gab keine Antwort. Statt dessen öffnete er einen kleinen, ledernen Ranzen und nahm einen Topf mit Schmierfett, einige Schlüssel und eine Kollektion Feilen verschiedener Art und Größe heraus.
    Er ging sofort zu den beiden Chubb-Safes, fettete die vier Schlösser ein und begann, die Schlüssel auszuprobieren.
    Burgess sah diesem Vorgang mit nur mäßigem Interesse zu: er wußte, daß Rohkopien von Schlüsseln, Kopien, die nach Wachsabdrücken hergestellt worden waren, einen sauber gearbeiteten Safe ohne vorheriges Feilen und Probieren nicht zu öffnen vermochten. Andererseits war Burgess auch beeindruckt: er hätte nie gedacht, daß das Unternehmen so einfallsreich und unverfroren durchgeführt werden würde.
    »Wo haben Sie die Wachsabdrücke gemacht?« fragte er.
    »Hier und da«, erwiderte Agar, der sich beim Probieren und Feilen nicht stören ließ.
    »Sie bewahren diese Schlüssel doch getrennt auf.«
    »Ach, wirklich«, sagte Agar.
    »Wie sind Sie an die Schlüssel gekommen?«
    »Das geht Sie nichts an«, sagte Agar.
    Burgess sah ihm eine Weile zu und betrachtete dann den Leoparden. »Was wiegt er?«
    »Fragen Sie ihn doch mal«, gab Agar gereizt zurück.
    »Wollen Sie sich das Gold denn heute schnappen?« fragte Burgess, als es Agar gelungen war, eine der Safetüren zu öffnen. Einen Augenblick lang starrte Agar die Kassetten im Innern des Safes an.
    »Ich fragte, wollen Sie das Gold heute mitnehmen?«
    Agar schloß die Safetür. »Nein«, sagte er. »Und jetzt halten Sie die Klappe.« Burgess verstummte.
    In der folgenden Stunde, während der Morgenzug von London auf Folkestone zudampfte, bearbeitete Agar seine Schlüssel weiter. Schließlich hatte er beide Safetüren geöffnet und wieder geschlossen. Nach getaner Arbeit wischte er das Fett von den Schlössern, die er dann mit Alkohol reinigte und säuberlich abtrocknete. Schließlich nahm er seine vier Schlüssel, steckte sie behutsam in die Tasche und setzte sich hin, um die Ankunft des Zuges im Bahnhof von Folkestone abzuwarten.
    Pierce erwartete ihn am Bahnhof und half beim Ausladen des Leoparden.
    »Wie ist es gegangen?« fragte er.
    »Die Schlüssel haben den letzten Schliff«, erwiderte Agar und grinste. »Es ist das Gold, nicht wahr? Das Gold für die Krim, wie?«
    »Ja«,

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