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Der grosse Horizont

Der grosse Horizont

Titel: Der grosse Horizont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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Mischung aus einem lächerlichen und einem großartigen Menschen. »Die Reflexion ist jetzt schon etwas Altmodisches«, dachte Haid. »Wahrscheinlich dauerte es nicht mehr lange, bis die Menschen glücklich und bequem, ohne Phantasie, Sehnsucht und Liebe lebten.« Haid kannte den Menschentyp, der alles auf das Praktikable und den zu erwartenden Vorteil hin untersuchte. Der Geist war nur noch eine klappernde Rechenmaschine. In diesem Augenblick begriff und liebte Haid die jungen Amerikaner, die als buddhistische Wandermönche verkleidet Flugblätter anboten. Er blickte sich um und langte in einem Regal nach einem Notizbuch, in dem an einer Lederschlaufe ein kleiner Bleistift befestigt war. Als er bezahlen wollte, fand er seine Brieftasche nicht. War sie ihm gestohlen worden? Erschrocken eilte er zum Postschalter zurück. Er war zu keinem Gedanken fähig. Tatsächlich lag die Brieftasche auf dem Pult, dort, wo er stehengeblieben war, um die Marken in den Paß zu stecken. Hinter dem Schalter saß noch immer die junge Dame mit der Brille, die an einem Goldkettchen um ihren Hals hing. Haid hatte das merkwürdige Gefühl, in Gefahr zu sein. Wenn ihn jemand beobachtet hatte, wie er die Brieftasche an sich genommen hatte, konnte womöglich der Eindruck entstanden sein, daß er, Haid, eine herumliegende Brieftasche gestohlen hatte. Er fixierte einen Briefmarkenautomaten, um beschäftigt zu wirken. Das Schlimmste war, ungeschickte Hastigkeit auszudrücken. Gleich darauf kam ihm zum Bewußtsein, daß er dabei war, seine eigene Brieftasche zu stehlen. Aber diese Erkenntnis bereitete ihm kein Vergnügen. Er steckte die Brieftasche ein und musterte die Dame hinter dem Schalter. Sie kümmerte sich nicht um ihn, sondern war gerade in ein Gespräch mit einem Neger verwickelt. Haid riß sich los und verließ das Kaufhaus durch einen Hinterausgang. Plötzlich stand er wieder vor seinem Hotel.
     
     
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    Vor ihm befand sich einer der Blumenstände. Auf der anderen Straßenseite erkannte er den Portier, der vor dem Hotel auf- und abspazierte. Hätte er jetzt eine Zeitung bei sich gehabt, dann hätte er sie geöffnet, mit dem Finger ein Loch gebohrt und den Portier beobachtet. Er steckte seine Hände in die Taschen des Staubmantels und schlenderte die Powell Street hinauf. Als er den Hügel erreicht hatte, sah er zwischen den Wolkenkratzern das Meer. Er genoß den Wind, der in kleinen Böen vom Meer herüberwehte. Eine Viertelstunde später spazierte er durch das chinesische Viertel. Ein Gefühl der Schwerelosigkeit überwältigte ihn. Irgendein Konfuzius blickte schläfrig aus seinem Geschäft und gab einem schwarzen Kater einen Tritt. Der Kater machte einen Satz, hockte sich vor Haid auf die Straße und glotzte ihn an. Haid ging an ihm vorbei. Er ging an Lebensmittelgeschäften vorbei, in welchen getrocknete Gänse, nackt, mit gelber Haut und flach wie ein Omelett von verchromten Fleischhaken hingen, ging an gelben Alten mit Brillen, Spazierstöcken und Hüten vorbei, an Jungen, die korrekt gekleidet waren wie Bankbeamte, an einem Behälter mit krabbelnden Krebsen vor einem Fischgeschäft. Die Reklameschilder mit chinesischen Buchstaben wucherten aus den Hauswänden wie Bilder, die ein manischer Künstler in einem irrwitzigen Einfall die Straße entlang aufgestellt hatte, besessen vom Drang, jeden Winkel damit zu überfluten. Haid blieb stehen und betrachtete sie, die endlose Straße hinunter, als blättere er in einem farbigen Wörterbuch mit chinesischen Schriftzeichen. Limousinen fuhren leise und langsam vorbei. In einem Cadillac trank ein glatzköpfiger Amerikaner Limonade aus einem Pappbecher. Haid betrachtete alles, als sei es eine Kulisse für ihn. Er hatte Angst, die Schwerelosigkeit zu verlieren. Hermann Hesse rief ihn aus einer dunklen Bar, die durch einen halbzugezogenen Samtvorhang von der Straße nur schlecht abgeschlossen war. Er saß an der Theke mit faltigem, verbittertem Gesicht, betrunken, schweigend, aber mit neugierigen Augen. Der Barhocker neben ihm war leer und Haid nahm Platz. Durch den Spalt im Samtvorhang sah er auf einem schwarzen Schild rote Lämpchen das Wort EMPRESS in die glasklare Luft blinken, als handle es sich um eine metaphysische Botschaft. Hesse schwieg. Ein gelbgestrichener Lastwagen hielt und ein Arbeiter lud Kartons mit der Aufschrift A NDREWS ab. »Sie trinken?«, fragte Hesse.
    Haid nickte. Der Barkeeper goß ihm auf ein Zeichen von Hesse aus einer Tonflasche eine Flüssigkeit ein und

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