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Der grosse Horizont

Der grosse Horizont

Titel: Der grosse Horizont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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schob sie ihm über den Tisch. Haid trank einen Schluck, der süß und scharf schmeckte. »Haben Sie noch ein Zeitgefühl?«, fragte Hesse.
    Haid blickte mechanisch auf seine Uhr. Er hatte jedoch nicht die Absicht, die Uhrzeit festzustellen, auch war er zu verwirrt, um zu antworten.
    »Es ist seltsam«, murmelte Haid, »ich bin leicht, wie ein Blumenblatt.«
    Hesse blickte ihn erstaunt an, und Haid bemerkte, daß er neben einem alten Chinesen saß, der sich sofort von ihm ab wandte. Haid bezahlte und stolperte auf die Straße. In einem Geschäft hatte er ein kleines Buch über Akupunktur gekauft, in dem menschliche Körper mit eingestochenen Nadeln in den Gliedern, am Brustkorb und am Rücken abgebildet waren. Er wußte nicht, warum er sich das Büchlein gekauft hatte. Er hatte ein merkwürdiges Verhältnis zur Medizin, sie faszinierte ihn und stieß ihn zugleich ab. Er war überzeugt davon, daß die Medizin sich auf einem Irrweg befand. Der blinde Fortschrittsglaube war losgelöst vom Interesse am Menschlichen. Krankenhäuser kamen ihm vor wie Versuchsstationen für Kaninchen, die man mit chemischem Zeug vollpumpte, um sie möglichst schnell wieder ans Fließband treiben zu können. Viren und Bazillen, Krebsgeschwüre und defekte Herzklappen wurden wie persönliche Feinde bekämpft und der Mensch, der daran litt, war nur das Schlachtfeld für diese Kämpfe. Aber die Viren und Bazillen überlebten die chemische Kriegsführung und zeugten Nachkommen, die dagegen resistent wurden. Immer stärkere Waffen mußten eingesetzt werden, immer kompliziertere Apparate, die aus den kranken Menschen wiederhergestellte Wracks machten. Wiederhergestellt war das Zauberwort der Medizin. Auch Haid lief wie ein abgerichtetes Zirkustier zum Arzt, sobald er Schmerzen fühlte, aber er war von der Richtung, in die sich die Medizin entwickelte, nicht überzeugt. Es galt nur, Zeit zu gewinnen und so schnell wie möglich die Krankheit auszutreiben. Dieses kleine Büchlein über AKUPUNKTUR vermittelte ihm den Eindruck, daß das kultische Ritual der Krankheitsbekämpfung noch lebendig war. Die Krankheit wurde mit alchemistischer Neugierde im Menschen aufgespürt und nicht von einem Stab technokratischer Ärzte als abstrakter Feind in einem nebulosen Raum bekämpft. Er steckte das Büchlein weg. In einer Auslage waren Schlangen in einem Goldfischglas eingelegt. Die Köpfe sahen aus wie Köpfe von winzigen Drachen … Haid nahm sich vor, den Weg noch einmal zu gehen, mit klarem Kopf und klareren Gedanken. Denn das, was ihn hier zu einem exklusiven Zuschauer des magischen Theaters machte, schien ihm plötzlich nichts anderes zu sein als eine Methode, Profit zu machen. Ein Mister GONG NUM führte einen Kamera-Shop für KODAK-Geräte, ein Mister wo YICK importierte und exportierte, und im Haus Nr. 950 der GRANT AVE führte ein Mister KUO WAH ein chinesisches Speiserestaurant. So reihte sich jedes Haus in dieser Straße in die Kette von Geschäften ein, warb mit bunten Schildern, mit außergewöhnlichem Design, mit Neon und Goldfarbe für Produkte, die erworben werden sollten. Das war alles. Haid war nicht in einen Traum gefallen, sondern der Traum wurde ihm mit realen Mitteln vorgespielt. In den Geschäften und Restaurants standen die Schauspieler und spulten den Eintretenden ihre Monologe herunter. Haid fiel jetzt auch auf, daß keine schmutzigen Menschen zu sehen waren. Er zündete sich eine Zigarette an und sah einem chinesischen Kind zu, wie es einem braun weißgefleckten Hund mit einem Gemüsestrunk auf die Schnauze schlug. Der Hund schloß schläfrig und gelangweilt die Augen und blieb sitzen. Haid spazierte zu KUO WAHs Speiserestaurant zurück, las die roten Buchstaben auf dem riesigen blauen Leinendach, trat näher, sah an den Säulen zum Eingang Mosaikfiguren, die Saitenspieler darstellten und studierte die Speisekarte, die in chinesischer und englischer Schrift die Speisen mit poetischen Namen anführte. Natürlich war Haid selbst der Poet. Er war ein merkwürdig zerrissener Poet. Kaum war er von etwas fasziniert, wurde er argwöhnisch. Er gab seinem Gehirn die Schuld daran, diesem kleinen, grauen Stück Fleisch, das er mit sich herumtrug, oder das ihn mit sich schleppte und das ihn zur ichbezogenen Figur machte. Sein Gehirn machte das Einfachste kompliziert und wehrte sich gegen Vereinfachung. Haid war aufgefallen, daß die meisten Intellektuellen vorgaben, keine zu sein. Es war wie mit dem Geld. Die Reichen verabscheuten zu zeigen, daß

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