Der Große Krieg: Die Welt 1914 bis 1918
Stellen man besser ansetzen solle: Briten und Russen präferierten die schwachen, Franzosen und Deutsche die starken Punkte, und dementsprechend legten sie ihre jeweiligen Kriegspläne an. Und schließlich gab es auch ein politisches Lernen, das um die Frage kreiste, ob und wann man in einen Krieg eintreten und wann man ihn beenden beziehungsweise einen Separatfrieden schließen solle. Lenin, der das Ziel verfolgte, den Staatenkrieg in einen Klassen- oder Bürgerkrieg umzuwandeln, war in dieser Hinsicht besonders lernbereit; die Deutschen hingegen beschränkten ihre Lernbereitschaft vorwiegend auf den Bereich der militärischen Taktik. Tatsächlich hatte ihre Gefechtsführung bei Kriegsende nur noch wenig gemein mit der bei Kriegsbeginn; andernfalls hätten sie den Konflikt auch nicht so lange durchhalten und immer wieder aufs Neue auf den Sieg hoffen können, obwohl sie der Koalition ihrer Gegner an Menschen und Material von Anfang an hoffnungslos unterlegen waren. Gerade darin bestand aber das Verhängnis der Deutschen – ihre Lernerfolge im Bereich der Taktik, der rein militärischen Sphäre also, verminderten den Druck, auch im Bereich der Strategie und vor allem der Politik zu lernen. Um es zuzuspitzen: Weil die Deutschen in taktischer Hinsicht glänzende Lernerfolge hatten, glaubten sie, derlei auf politischem Terrain nicht nötig zu haben – und unter anderem daran sind sie in diesem Krieg gescheitert. Die Macht des Militärs, obwohl schon bei Kriegsbeginn vergleichsweise groß, wuchs immer weiter, sodass ein Taktiker wie der Erste Generalquartiermeister des deutschen Heeres Erich Ludendorff zuletzt die Politik vollständig unter seine Kontrolle brachte.
Wie aber konnte es zu diesem Ungleichgewicht zwischen militärtaktischem und politischem Lernen kommen? Und worin lagen dessen tiefere Ursachen? Zweifellos hat hier die Verfassung des Deutschen Reichs eine wichtige Rolle gespielt, die dem Generalstabschef unmittelbaren Zugang zum Kaiser gewährte und das Militär nicht der Kontrolle des Reichskanzlers oder gar des Reichstags unterwarf. Der Monarch vermochte den Generalstab allerdings nicht effektiv zu kontrollieren: Die Vorliebe Wilhelms II . für alles Militärische und seine Überzeugung, ein großer Feldherr zu sein, Friedrich dem Großen vergleichbar, kontrastierte mit seiner mangelhaften Ausdauer, sich über längere Zeit mit den entsprechenden Problemen zu beschäftigen. Ohne Rückendeckung des Kaisers konnte sich der Reichskanzler jedoch nicht gegen die militärische Führung durchsetzen, folglich stieg der politische Einfluss des Militärs weiter an, und der Primat der Politik konnte nicht zur Geltung gebracht werden. Während des Krieges war der Kaiser zudem ständig auf Reisen – freilich nicht mehr auf seiner Jacht in den norwegischen Fjorden oder in der Inselwelt der Ägäis, sondern im Sonderzug zwischen West- und Ostfront und oftmals auch weit weg vom militärischen Geschehen – und hielt sich nur selten in Berlin auf. Wilhelm verlor darüber den Sinn für die Realität des Geschehens und zog sich immer tiefer in eine Phantasie- und Wunschwelt zurück. Die zutiefst monarchisch gesinnten Männer seiner Umgebung registrierten mit Sorge, dass der Kaiser so gut wie keinen Kontakt mehr zur Bevölkerung hatte und sein Ansehen bei dieser rapide sank. Die kaiserliche Abwesenheit im Regierungszentrum hatte sicherlich auch mit dem Elend in Berlin, den langen Schlangen vor den Lebensmittelgeschäften und der wachsenden Missstimmung in der Bevölkerung zu tun. Der Krieg legte die Schwächen der preußischen Dynastie schonungslos offen, und er zeigte zugleich, in welchem Maße die Monarchen in Europa imageabhängig geworden waren. Die Legitimität des preußischen Königs und deutschen Kaisers erwuchs nicht mehr aus Gottes Gnaden, wie es in der Titulatur noch immer hieß, sondern aus Volkes Stimmung, und in dieser Beziehung stand es nicht gut um das Haus Hohenzollern.
Der Krieg hat aber auch die inneren Widersprüche des Deutschen Reichs sichtbar gemacht und zugleich verschärft. In vieler Hinsicht war Deutschland das modernste Land in Europa: Es hatte die bei weitem größte Industrieproduktion, war in den Zukunftsindustrien führend, verfügte über ein leistungsfähiges Schul- und Universitätssystem, besaß in den Natur- wie Geisteswissenschaften Weltgeltung und verfügte über ein lebhaftes kulturelles und künstlerisches Leben. Es hätte «ein deutsches Jahrhundert» werden können, wie der
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