0913 - Das Gespenst
Die kleine Kapelle lag etwas außerhalb von Carcassonne. Sie gehörte zu den Bauten, die einfach vergessen worden waren. Seit Jahrzehnten hatte niemand mehr Interesse an ihr gezeigt. Wind und Wetter hatten ihr schwer zugesetzt.
Stürme waren über das Dach hinweggetobt, hatten wie gierige Tiere nach Beute gesucht und inzwischen fast alle Dachpfannen heruntergerissen.
Fensterscheiben gab es schon lange nicht mehr. Der Wind pfiff durch die Löcher und verursachte in der zerstörten Kapelle ein geisterhaftes Jaulen, als wollten unheimliche Gespenster den Lebenden zeigen, daß sie noch vorhanden waren.
Im Zweiten Weltkrieg, dessen Ende mehr als fünfzig Jahre zurücklag, hatten deutsche Soldaten in der Ruine campiert. Sie waren aber nach einigen Wochen abgezogen, weil sie ein besseres Quartier in der Stadt gefunden hatten.
Wie viele Menschen bisher zwischen den Mauern übernachtet oder sich länger aufgehalten hatten, wußte niemand. Überhaupt wollten die Menschen, die die Kapelle kannten, nicht über sie reden. Sie wußten einfach zuwenig darüber, und zudem gefielen ihnen die alten Geschichten nicht, die sich um diesen Bau rankten. Angeblich war sie einmal ein Hort für Ketzer gewesen, aber den Beweis dafür konnte niemand antreten. Es blieb im dunkeln verborgen.
Historiker hätten anders darüber berichten können, doch wer interessierte sich heute noch für die fast neunhundert Jahre zurückliegende Albigenserkriege. Das war Geschichte, blutige Geschichte.
Die einzigen Bewohner, die sich bei oder in den Ruinen wohl fühlten, waren die Vögel. Spatzen, Tauben, auch Saatkrähen nisteten in den Löchern und Fugen des alten Gemäuers, weil sie hier Schutz fanden.
Die Zeit war über die kleine Kapelle hinweggestrichen und hatte sie zu einem vergessenen Ort gemacht. Selbst durch den Bau der nicht weit entfernten Autobahn war die Ruhe der Kapellenruine nicht gestört worden, und so stand sie irgendwie am Ende der Welt, obwohl sie bei klarem Wetter auch aus großer Entfernung zu sehen war.
In diesem Jahr hatte die Kapelle wieder mal einen Winter überstanden. Der Frühling war nur kurz gewesen. In dieser Zeit waren die Pflanzen in ihrer Blüte explodiert, und beinahe übergangslos war es nicht nur warm, sondern schon heiß geworden. Der Monat Mai zeigte sich wirklich von einer besonderen Seite.
Zwar war die Kapelle von den Einheimischen vergessen worden, aber es gab trotzdem Menschen, die sich hin und wieder an sie erinnerten, ihren Platz genau fixiert hatten, denn sie war als Fixpunkt auf bestimmten Karten eingezeichnet, die wiederum nur bestimmte Menschen in die Hände bekamen. Sie selbst nannten sich Berber oder Wanderer, denen Europa gehörte. Für andere waren sie einfach nur Penner oder Arbeitsscheue, was diese Leute, die sich mehr schlecht als recht durchs Leben schlugen, nicht weiter kümmerte. Sie waren auf Wanderschaft, sie kannten andere Länder, sie zogen zu Beginn der kalten Jahreszeit von Norden nach Süden, und am Anfang des Sommers nahmen sie den umgekehrten Weg.
Sven Hansen gehörte dazu. Er war jemand, der einfach die Welt kennenlernen wollte, und er gehörte auch nicht zu den Leuten, die nur bettelten. Nein, er hatte bewußt seinen Arbeitsplatz verlassen und war zu einem Aussteiger geworden, der durch die Welt ziehen und diese auf dem Landweg kennenlernen wollte, denn als Seemann waren ihm die vielen Hafenstädte schon bekannt. Er wußte nur nicht, wie es hinter ihnen aussah, und diese Sehnsucht, die ihn schon immer an Bord seines Schiffes erwischt hatte, war einfach zu stark gewesen, und so hatte er sich den Traum nach mehr als zwanzig sparsamen Jahren auf dem Schiff endlich erfüllen können.
Sven Hansen, der Däne, liebte den Süden. Er genoß die Wärme, denn in seiner Heimatstadt Odense war es ihm, stets zu kalt gewesen. Und so hielt er sich auch in den Sommermonaten zumeist in Frankreich auf, ging hin und wieder auch nach Spanien, aber wenn ihn die große Sehnsucht überkam und er das Meer und Schiffe sehen wollte, dann blieb er in Marseille.
Das hatte er hinter sich. Er war nach Norden gezogen und etwas in Richtung Osten abgeschwenkt, denn ihn lockte die Gegend südlich von Carcassonne.
Sven Hansen war breitschultrig und blond, wie ein Wikinger, mit einem sogenannten Knautschgesicht, das auch wahrscheinlich deshalb so aussah, weil der Kopf von einem dichten Haarwuchs umgeben war. Früher hatte sich Hansen auf seinen Seesack verlassen, aber das war vorbei. Seit Beginn seiner Wanderung
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