Der Große Krieg: Die Welt 1914 bis 1918 (German Edition)
von der politischen und gesellschaftlichen Bühne zu verhindern. Dem Fatalismus bei Riezler und anderen entsprach bei Angell und Kautsky das übergroße Vertrauen in die kriegsvermeidenden Kräfte des Kapitalismus – ein Optimismus, der sich im Sommer 1914 als unbegründet erwiesen hat. Aber selbst wenn der Kapitalismus den Krieg nicht verhindert hat, so heißt das doch keineswegs, dass er direkt in ihn hineingeführt habe, wie Lenin behauptete. Beide Annahmen, die von der Determination des Krieges infolge der machtpolitischen Rivalitäten oder der Konkurrenzimperative des Imperialismus wie auch die von der Zwangsläufigkeit des gesellschaftlichen Fortschritts, auf dessen Bahn der Krieg keinen Platz mehr habe, haben das Verantwortungsbewusstsein der Politiker für die Folgen ihrer Entscheidungen geschwächt und so den Weg in den Krieg erleichtert.
Im Hinblick auf den angesprochenen chinesisch-amerikanischen Konflikt heißt das, dass die wirtschaftlichen Verflechtungen beider Länder nicht per se eine Eskalation möglicher Konflikte verhindern werden. Eine solche Annahme wäre ebenso naiv wie das bedingungslose Vertrauen in die Fähigkeit der Vereinten Nationen, einen Krieg zu verhindern. Wie die Betrachtung der kurzen und langen Wege in den Krieg gezeigt hat, kann die Furcht vor Prestigeverlust und der damit verbundenen Herabstufung im System der großen Mächte eine solche Dynamik gewinnen, dass alle Hemmnisse und Blockaden in Richtung Kriegsausbruch überrollt werden und die rationalen Kalküle gegen die Macht der nationalistisch aufgeputschten Gefühle nicht ankommen können. Nichts scheint dabei so gefährlich zu sein wie hochkochender «Volkszorn», der einer auf Konfliktmoderation ausgerichteten politischen Elite die Option eines Rückzugs vom «Kriegspfad» verstellt und sie zu Entschlüssen und Handlungen zwingt, auf die sie sich ohne den Einfluss der Straße nicht eingelassen hätte. Es sollte die politischen Führungen der ostasiatischen Länder vor einem Spiel mit der Karte der nationalistischen Emotion warnen, denn diese Karte lässt sich nicht wieder zurückziehen, wenn sie erst einmal ausgespielt worden ist. Gerade dafür ist die unmittelbare Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs ein Beispiel: Die Regierungen hatten im Juli 1914 hoch gepokert und mussten, wenn sie zurückgesteckt hätten, nicht nur mit einem Reputationsverlust in der internationalen Politik, sondern auch mit einem Gesichtsverlust gegenüber der eigenen Bevölkerung rechnen. Das hat ihre Bereitschaft zum «Griff nach der Notbremse» folgenreich eingeschränkt.
Im Unterschied zu England und den USA ist der Erste Weltkrieg in Deutschland zu einer Angelegenheit der Historiker geworden; in der Theorie der «Internationalen Politik» als politikwissenschaftlichem Teilgebiet hat er hierzulande so gut wie keine Rolle gespielt. Die Gefahr eines solchen Krieges sei gebannt, so hieß es von Seiten der Politikwissenschaft lange Zeit, wenn alle Staaten eines geopolitischen Raumes demokratisch geworden seien, da Demokratien gegeneinander keine Kriege führten. Sowohl Historiker als auch Politikwissenschaftler haben die Kontingenz eines Geschehens in strukturellen Determinanten verschwinden lassen, und dieses Bedürfnis nach Kontingenzreduktion hat entscheidend zum Siegeszug der sekundären Determinationstheorien beigetragen. Darunter sind jene geschichtstheoretischen Konzepte zu verstehen, die nicht das Handeln der Akteure von 1914 beeinflusst haben, sondern in historischer Perspektive zu erklären versuchen, warum dieser Krieg «überdeterminiert», letztlich also unvermeidlich gewesen sei.
Die Frage nach der Rolle des Zufalls vor und während des Krieges wird politisch brisant, sobald es nicht mehr um Vorgänge geht, die sich, weil sie auf beiden Seiten zu beobachten sind, statistisch ausgleichen, sondern um Ereignisse, durch die der Krieg in eine bestimmte Richtung gelenkt wurde. Das
Ereignis
unterscheidet sich darin vom
Geschehnis
, dass nach ihm vieles nicht mehr so ist, wie es vordem war. [1409] Das Ereignis greift in den Geschichtsverlauf ein und verändert ihn; das Geschehnis hingegen bleibt dem Geschichtsverlauf immanent. Die Kontingenz der
Geschehnisse
ist für uns kein großes Problem, weil von ihr keine grundlegenden Fragen aufgeworfen werden. Aber
Ereignisse
transzendieren die Normalität oder Banalität des Geschehens; in ihnen stellt sich die Frage nach dem ‹Wozu› und ‹Warum›. Diese Frage bleibt unbeantwortet, wenn Ereignis
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