Der gruene Heinrich [Erste Fassung]
sich aber zur Gesellschaft und forderte sie auf, ihn ebenfalls näher zu betrachten; man hieß ihn einige Schritte vorwärts gehen, er tat es, und jedermann bestätigte nun ja, er sei schief!
Aufgebracht stellte er sich sogleich neben den Angreifer und wollte ihm beweisen, daß dieser selbst der Mißgewachsene sei. Der war aber schlank wie eine Tanne, und die Gesellschaft fing an zu lachen. Sprachlos und hastig kleidete er sich aus und ging splitternackt vor den übrigen her; die rechte Schulter war vom unaufhörlichen spöttischen Achselzucken höher als die linke, die Ellbogen von seiner eitlen Gespreiztheit nach auswärts gedreht und die Hüften verschoben; dazu wurde er durch das Bestreben, grade zu scheinen, nur noch krummer; er machte in seiner Nacktheit die wunderlichsten Beine, als er so dahinschritt und sich dann und wann ängstlich umsah, ob ihm noch nicht Beifall und Achtung der Gesellschaft nachfolge. Als diese aber in ein maßloses Gelächter ausbrach, geriet er in großen Zorn und begann, um sich Achtung zu erzwingen, ungeheuerliche Sprünge und Kunststücke zu machen, um die Stärke seines Körpers zu zeigen. Das Gelächter wurde immer größer, und die Lachenden mußten sich auf die Erde setzen. An jener Stelle war vorzeiten ein Fichtenwald in den See gestürzt und wurde in der Tiefe durch die nachgerollten Felsblöcke festgehalten. Wie nun der nackt Umhertanzende sah, daß die lachenden Menschen sich bereits auf der Erde wälzten mit nassen Augen, sprang er plötzlich, in einem Anfall von unsäglicher Wut und irgend etwas Wunderbares erzwingen wollend, mit einem mächtigen Satz über den Rand hinaus in den See, hoch hinunter, wo der versunkene Wald lag. Erst eine geraume Weile nachher, als die lachende Gesellschaft sich einigermaßen gesammelt hatte, bemerkten sie sein Verschwinden, suchten ihn überall, traten an den Rand des Abgrundes, aber niemand hat ihn wiedergesehen.
Dies krankhafte Beispiel von den wunderbaren Gängen, welche die Entstehung des »Glaubens« in den Menschen verfolgt, mag nun freilich sehr vereinzelt dastehen; doch wenn sie auch bei der Mehrzahl einen edlern Grund und Boden hat, so werden ihre Schneckenlinien doch nicht grad. Ich würde mich schämen, wenn ich jemals dahin kommen würde, jemanden seines Glaubens wegen zu verachten oder zu verhöhnen oder den Gegenstand desselben nicht zu ehren, wenn der Gläubige darin seinen Trost findet; aber die nackte und gewaltsame Forderung des Glaubens, sozusagen die Theorie des Glaubens selbst, ist eine so mißliche Sache für mich, daß ich, indem ich diese meine geheime Schreiberei übersehe, mein Herz durch die lange Kundgebung gegen den Glauben beinahe so staubig, trocken und unangenehm fahle, als wenn ich ein ehrbarer Theologe wäre und für den Glauben polemisiert hätte, und ich muß mich beeilen, aus diesem unerquicklichen Gebiete wieder zu den Gestalten des einfachen wirklichen Lebens zu gelangen.
Die dritte Hauptlehre, welche der Geistliche uns als christlich vortrug, handelte von der Liebe. Hierüber weiß ich nicht viel Worte zu machen; ich habe noch keine Liebe betätigen können, und doch fühle ich, daß solche in mir ist, daß ich aber auf Befehl und theoretisch nicht lieben kann. Inwiefern durch die stete Wiederholung des Worts das Christentum einen gewissen Bestand wirklicher Liebe in die Welt gebracht habe, wage ich nicht zu beurteilen; doch dünkt es mich, es habe vor zweitausend Jahren auch Liebe gegeben und gebe auch jetzt noch, wo das Christentum nicht hingelangt ist, wenn man nur die verschiedenen Formen unterscheiden will, in welche das wahre Gefühl sich hüllt. Gewiß ist schon mancher einzelne Unglücksmensch und mancher arme rauhe Volksstamm durch das eindringlich und heiß ausgesprochene Wort Liebe aufgeweckt und einem hellern und schönern Dasein gewonnen worden; wenn aber solche gewonnenen Völker, einmal dem Christentum einverleibt, endlich das ganze Bewußtsein und die Bildung der christlichen Welt, welche wir alle zusammen ausmachen, erreicht haben, dann wird jenes naive Morgengefühl der Liebe wieder untergehen in der allgemeinen Kälte der alten Christenwelt und nur da bestehen, wo es ursprünglich in den Menschen wurzelte, also zuletzt überall auferstehen. Schon die unmittelbare Rücksicht auf den lieben Gott ist mir hinderlich und unbequem, wenn sich die natürliche Liebe in mir geltend machen will. Da einmal bei unseren Handlungen das Denken an Gott und das Verdienst in den Augen Gottes so fest
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