Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der gruene Heinrich [Erste Fassung]

Der gruene Heinrich [Erste Fassung]

Titel: Der gruene Heinrich [Erste Fassung] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gottfried Keller
Vom Netzwerk:
Erwachsenen anhört, welcher ihm lieb ist und seiner Achtung genießt; war ich aber allein, so mußte ich mir gestehen, daß ich das Beste, was ich bisher gelernt, aus der Hand des Wahnsinns empfangen habe. Dieser Gedanke empörte mich, und ich begriff nicht, wie jemand wahnsinnig sein könne. Eine gewisse Unbarmherzigkeit erfüllte mich, ich nahm mir vor, mit einem klaren Worte die ganze unsinnige Wolke gewiß zerstreuen zu wollen; stand ich aber dem Wahnsinne gegenüber, so mußte ich seine Stärke und Undurchdringlichkeit sogleich fühlen und froh sein, wenn ich Worte fand, welche, auf die verirrten Gedanken eingehend, dem Leidenden durch Mitteilung einige Erleichterung gewähren konnten. Denn daß er wirklich unglücklich und leidend war und alle eingebildeten Qualen wirklich fühlte, konnte ich nicht verkennen. Unter seinen Einbildungen war eine einzige, welche ihm ein Ersatz für den übrigen Schaden zu sein schien und zugleich so komisch, daß sie mich zum Gelächter reizte. Er lebte nämlich der Überzeugung, daß er bei allen hohen diplomatischen Verheiratungen eine Art Recht der ersten Nacht genösse, teils um einer jeden europäischen Verbindung durch seine persönliche Einwirkung die rechte Weihe zu geben, teils um ihn durch solche Annehmlichkeit einzuschläfern und ihn abzuhalten, eine eigene hohe Heirat einzugehen, um seine Selbständigkeit zu verhindern, da, wie er behauptete, durch die feste Verbindung des Mannes mit dem Weibe jener erst seine volle Freiheit und Bedeutung erhielte. Wenn daher in den Zeitungen eine wichtige politische Heirat gemeldet wurde, so machte er sich für eine kurze Zeit unsichtbar und überließ sich nachher noch lange einer geheimnisvollen süßen Träumerei, deren Schleier er mich nur mit verhüllten Worten durchblicken ließ. Ich mußte mir alsdann die Möglichkeit vorzustellen suchen, wie er an einem Tage an das entfernteste Ende Europas und wieder zurückgelangen konnte.
    Jedoch fiel aus dem Unsinne manch vernünftiges Gespräch, und die Erörterungen über sein Unglück und die dasselbe veranlassenden Menschen waren oft lehrreich. Einst sagte er »Ich kann mich ganz genau des Wendepunktes entsinnen, wo mein Geschick sich verfinsterte. Ich war in Rom und lag auf diesem alten Weltplatze meinen tiefen Studien ob. Nebenbei betrieb ich die Landschaftmalerei, teils um durch sie nach und nach das Terrain von ganz Europa auf die genaueste Weise kennenzulernen, teils um, wie ich selbst für nötig fand, das Geheimnis meiner Person zu verhüllen. Die diplomatische Welt hatte diese Maske akzeptiert und nahm mich unter derselben bei sich auf. Wenn von meinen Arbeiten gesprochen wurde, so war dies nur eine symbolische Blumensprache, die jeder Eingeweihte verstand. Ich glaubte mich auf dem besten Wege, zu meiner offenen und freien Tatkraft zu gelangen, als ich einen hochgestellten Mann unversehens gegen mich einnahm; es war der ...sche Gesandte, welcher zum Zeitvertreibe Kunstnotizen in ein auswärtiges weitverbreitetes Blatt schrieb und in einer solchen auch meiner erwähnte, dessen geniale Aquarellen in römischen Kreisen ein günstiges Aufsehen für de ›bescheidenen‹ jungen Mann erregten. Er legte ein Hauptgewicht auf meine vermeintliche Bescheidenheit, obgleich der Esel gar nicht wissen konnte, ob ich bescheiden oder nicht bescheiden sei. Die Besprechung meiner Arbeiten war insofern nicht übel, als man in Paris, London und Petersburg leidlich verstehen konnte, was darunter gemeint sei; die ausführliche Beschreibung meiner Bescheidenheit hingegen war die erste Sonde, die man an mich legte, um zu erfahren, ob ich das volle Gefühl meiner Größe in mir trage. Ich ging richtig in die Falle und warf dem unbescheidenen Geschäftsmacher seine Anmaßung vor, indem ich ihm erklärte, ich sei gar nicht bescheiden und er habe kein Recht, dies von mir zu sagen. Von diesem Tage an desavouierte mich die große Welt öffentlich und fesselte mich an mein unglückseliges Joch; denn sie fühlte wohl, daß das Bewußtsein meiner Größe sie bald auseinanderblasen würde. Ich rate Ihnen wohlmeinend, junger Mann! wenn einst ein einfältiger Gönner von Ihnen sagen sollte, Sie seien ein bescheidener Mensch, so widersprechen Sie nicht, sonst sind Sie verloren!«
    Ich verschwieg Römers Irrsinn lange gegen jedermann und selbst gegen meine Mutter, weil ich meine eigene Ehre dabei beteiligt glaubte, wenn ein so trefflicher Lehrer und Künstler als toll erschien, und weil es mir widerstrebte, den

Weitere Kostenlose Bücher